Schleichhandel und Sabotage

Moskau lebt. Moskau ist kein Hungerturm. Moskauer Frauen sind ballonbackig. Auch im Gesicht. Moskauer Kinder sind puttenpopoig. Moskauer Männer sind nicht blutleer, nicht markarm, nicht knickgängig.

Moskau lebt. Aber Moskau lebt nur zum Teil von den rationierten Produkten, nur zum Teil von dem erarbeiteten Gelde. Zum großen Teil lebt Moskau vom Schleichhandel. Aktiv und passiv vom Schleichhandel. Es schleichhandelt, es kauft vom Schleichhandel, es schiebt, schiebt, schiebt.


Der Schleichhandel ist Ventilhandel. Denn man kann nicht kommandieren: lebt von den rationierten Produkten, wenn nicht genügend Produkte rationiert sind. Das ist meines Erachtens eine Übergangsangelegenheit, aber sie ist in diesem Augenblick sehr wichtig für den Moskauer Gedankenablauf,

In Moskau wird alles geschoben. Alles wird schleichgehandelt. Man kann sagen, von der Stecknadel bis zur Kuh. Möbel, Brillanten, Weißkuchen, Brot, Fleisch, alles wird schleichgehandelt. Die Sucharewka in Moskau ist ein Schleichhandelsbasar, ein Schieberwarenhaus. Ab und zu werden dort Razzias veranstaltet. Aber die Schieberei wird nicht niedergemacht. Sie ist eine vervielfachte Hydra, sie kommt tausendköpfig wieder.

Moskau hat Freimärkte, eine ganze Anzahl Freimärkte, offiziell geduldete Märkte, Ergänzungsmärkte, Zubrotmärkte. Zum Beispiel einen Ergänzungsmarkt in der Nähe des Theaterplatzes. Mit Gurken, Fischen, Hartkuchen, Eiern, Grünkram aller Arten. Es ist ein Gewimmel auf einem langen Bürgersteig. Buden stehen an den Bordsteinen, Händler hocken, Händler tuscheln von hinten in Käuferohren.

Die Gurke kostet 200 — 250 Rubel, das Ei 125 — 150 Rubel und das andere entsprechend. Es ist nicht viel, umgerechnet auf westeuropäische Valuta oder gar auf amerikanische Valuta. Für den Dollar erhielt man von Valutaschiebern zu meiner Besuchszeit in Moskau tausend Bolschewistenrubel. Man erzählte mir, ein Amerikaner habe 3.000 Dollar in Bolschewistenrubel umgetauscht. Er habe 9 Millionen Bolschewistenrubel erhalten. Es ist verboten, Valuta zu spekulieren, die Währung EU durchsprenkeln, zu verwirren. Wenn man von einer Währung sprechen will. (Davon wird noch die Rede sein.) Aber es wird Valuta spekuliert. Alles wird geschoben, natürlich auch Geld.

Milch wird von Bauern an allen Ecken feilgeboten. Gute Milch, keine Manschmilch. Man verbietet den Verkauf nicht. Es ist kein Schleichverkauf, es ist ein erlaubter Ventil- und Ergänzungsverkauf. Aber anderes wird geschoben. Jede rationierte Kleinware wird geschoben oder (schieberisch ausgedrückt) in jeder rationierten Kleinware wird geschoben. Soweit die Erfassung noch nicht gediehen ist. Selbst Großwaren werden geschoben. Brennholz wird geschoben, Kleidungsstücke werden geschoben, alles wird geschoben.

Diese Schieberei, die Schleichhändlerei, die Hamsterei ist eine Arbeitsbehinderung. Die Schieberei ist in der Seele der Arbeitenden. Sie schieben, während sie arbeiten, sie schieben, während sie arbeiten sollen.

Man kämpft dagegen, aber man konnte die Schieberei noch nicht ausrotten. Es ging noch nicht, es ging ganz selbstverständlich noch nicht. Es ist Krieg, es gibt zu wenig bewusste Zupacket in Moskau. Es ist das eine Entwicklungssache. Eine Kardinalsache ist es, so glaube ich, nicht.

In Deutschland kennt man das: Höchstpreise und Rationierungen sind Durchbrechungsanreize. Aber in Russland ist der Untergrund ein ganz anderer, die Erfassungsgrundsätze, die Erfassungsvoraussetzungen sind radikaler.

Moskau war immer eine Händlerstadt. Das war in der Revolution eine politische Sache und ist es jetzt auch noch. Moskau handelt noch immer. Bürgerliche handeln in Moskau, Beamte handeln, Arbeiter handeln. Moskau ist der große verbotene Freihandelshafen Russlands. Oft ist der Handel einfacher Tauschhandel. Ich sah folgendes: Ein Mann sprach einen anderen Mann an, ein Mann in langen Filzstiefeln einen Mann in Lederschuhen. Sie gingen hinter den Lorbeerbusch. Dort zogen sie beide ihre Beschuhung oder Bebeinung aus. Nun zog der Filzstiefelmann die Schuhe an und der Schuhmann die Filzstiefel. Reiner Tauschhandel, Eckenhandel, Handel hinter dem Lorbeerbusch, sozusagen vereinfachter bargeldloser Verkehr.

Die Todesstrafe ist abgeschafft in Russland. Nur an der Front wird sie noch verhängt. So sagte man mir. Die Außerordentliche Kommission kämpft jetzt gegen Spekulanten und Saboteure. Die Spekulation wird begriffen als bewusste, allgemeinschädigende Störung des Rationierungsprozesses. Die Sabotage als direkte und indirekte, aktive und passive Fernhaltung von der Arbeit. Als Arbeitrenitenz, als Arbeitslähmung, als fortgesetzte Faulheit.

Der Spekulant ist populär in Moskau, plakatpopulär, varietepopulär. Er wird nicht nur scharf bekämpft, ins Loch gesetzt oder zur Arbeit gezwungen, sondern auch bespöttelt. Einen Komiker sah ich, der ein Couplet an einer Holzpuppe herunterohrfeigte. Spekulante, Spekulante sauste der Refrain gegen die Holzbacke. Das Publikum juchzte und keiner fühlte sich mitgeohrfeigt. Ganz wie bei uns, ganz wie bei uns. Aber doch anders als bei uns (problematisch gesehen).

Es gibt Klein- und Großspekulation, Klein- und Großsabotage. Es werden noch unerhörte Schweinereien begangen, Verbrechen an der Gesundheit des Volkes. Lager-Schiebereien von Kolossalausmaß. Die Strafen sind entsprechend. Solche Halunken braucht man nicht zu schonen, Halunken, die den Frierenden die Wärme nehmen. Solche Halunken muss man bestrafen, daß die Knochen knacken. Man fasst sie, meine ich, in Moskau noch viel zu milde an.

Zwangsarbeit soll das Hauptmittel gegen Faulheit sein, wie gegen volksschädigende Spekulation. Aber mir schien, es ist noch nicht genügend System in der Zwangsarbeit. Jeder Volksschädiger dieser Art müsste schweißperlig schuften. Er müsste seine Lumperei mit Produktion wieder gutmachen.

Gegen die Kleinsabotage, die Faulheitssabotage, die Renitenzsabotage gibt es kleine Disziplinarstrafen. Gewisse Verwaltungsleiter haben Disziplinarbefugnisse wie etwa ein Hauptmann in der früheren preußischen Armee. Bis zu 14 Tagen Loch. Es sind Antragsstrafen. Sie werden nicht aus eigener Macht verhängt, sondern auf Antrag bei der Außerordentlichen Kommission.

Man macht nur wenig Gebrauch von dieser Antragsbefugnis. Man droht meistens. Ich erlebte folgendes: Eine Sowjetstenotypistin war wochenlang unentschuldigt von der Arbeit fortgeblieben. Sie schickte kein ärztliches Attest, sie begründete ihr Fortbleiben nicht mit einer Zeile. Der Verwaltungsleiter war durchaus berechtigt, die Strafe zu beantragen. Sie erschien schließlich im Bureau, weinte, bat und sophistelte. Vielleicht war sie, in schönen Frühlingstagen, auf einer Datsche gewesen. Der Verwaltungsleiter gab schließlich nach, begnügte sich mit einer straffen Verwarnung.

Infolgedessen gibt es ständig dezimierte Bureaus. Infolgedessen konstatiert man Pünktlichkeitsmangel, Schludrigkeit und Schöntun, wenn es kurz vor der Strafe ist. Hier muss noch dreingegriffen werden. Man wird und will alles berücksichtigen, alle Lebensnotwendigkeiten, aber es muss doch dreingegriffen werden. Mindestens mit häufigeren Stichstrafen. Sonst besteht Gewöhnungsgefahr. Vielleicht wird es anders werden, wenn der Krieg beendet ist. Es gibt zu wenig bewusste Leitungskräfte in Moskau. Die meisten sind an der Front.

Es wird anders werden. Aus einem Grunde, den ich hier nicht erörtern kann, denn das ist eine wirtschaftspsychologische Sache, eine organisationspsychologische Sache, eine wissenschaftliche Sache. Dieses Buch jedoch ist keine Schwerangelegenheit, keine Gewichtsangelegenheit, sondern eine Anekdotenaneinanderreihung, eine Tagebuchleichtheit, eine Erholung und keine Schwitzarbeit.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter