Radek

Bald nach meiner Ankunft in Moskau sprach ich Radek. Im Mirbach-Arbeitszimmer der früheren deutschen Botschaft. Also im Gebäude der Dritten Internationale.

Ich kannte ihn noch nicht. Im deutschen Gefängnis hatte ich ihn nicht besucht.


Ein mittelgroßer, schmaler Mann mit lichtem Wirbelhaar und etwas revolutionskoketten Koteletten. Sehr feines Handgelenk. Blassfarbiger und doch schimmernder Blick. Nervös. Auf Bildern in Moskauer Schaufenstern hat er eine Journalistenpfeife im Mund.

Radek ist Journalist, potenzierter Journalist. Die Gedanken hüpfen, stürzen, springen übereinander, kreuzen sich. Er ist ein ungemeiner Dialektiker, Rasch haut er ein, reißt plötzlich einen Satzzipfel an sich, greift mitten in den Satz hinein.

Man merkt: Er ist nicht ohne Herz. Er ist sogar gutmütig. Ein Staatsmann jedoch ist er nicht. Er ist ein potenzierter Journalist. Rasch begeistert, strömend, mit Blick in die Obergründe. Er pfeilt Artikel, er jagt Artikel in die Gegenfront hinein, er ist ein Augenblicksfechter, ein Staatsmann ist er nicht.

Als er von den Taten der Roten Armee spricht, von der Sicherung Petrograds gegen Judenitsch, glüht er. Er ist verdoppelt in diesem Augenblick, er ist wirklich begeistert.

Das gelungene Stechwort macht ihm Freude. Er ohrfeigt gerne. Aber es ist weniger ein Hieb als ein Pritschenschlag. Er ist ein Floretteur und kein Schwersäbelfechter.

Ich glaube, er steht am äußersten Ende des Alten. Das Neue ist er noch nicht. Er ist Politiker, aber kein Staatsmann. Man braucht jetzt noch Politiker, demnächst wird man Politiker nicht mehr nötig haben.

Ich habe das Gespräch mit ihm aufgezeichnet. Fast wortgetreu. Es sind Springereien gegen die Logik darin. Aber auch Warmherzigkeiten, Feurigkeiten, gute Sprüche.

Er ist nicht ausgeglichen. Er schimpft leicht, aber damit ist es nicht getan. Er hat, wenn ich so sagen darf, Schimpfschule gemacht. Aber damit ist es nicht getan. Man ist noch kein Phylax (im Sinne Platos), wenn man spitzpfeilig schimpft. Es gab gewaltige Schimpfer, die Phylaxe im Sinne Platos waren.

Doch ist er ein Mensch von Bedeutung. Aber nicht von wuchtiger Triebbedeutung, mehr von Wirbelbedeutung. Er ist sozusagen von aktueller Bedeutung.

Er mag die Intellektuellen nicht. Aber er ist selbst einer. Er ist ein potenzierter Intellektueller. Frauen beschwärmen ihn, weil er ein potenzierter Intellektueller ist. Männer nannten ihn in Moskau abseits von Lenin, ohne Organverbindung mit Lenin. Ich glaube, sie trafen das Richtige.

Er ist, sagte man mir, ein Vielbelesener. Er habe sich, sagte man mir, im Schnellzugstempo durch eine Weltliteratur hindurchgerast. Er ist einer von den großen journalistischen Könnern, die aus zwei Bröckelchen ein Problem machen. Das ist keine Kleinigkeit, das ist beinahe eine Divination.

Er hilft gern, er ist ein guter Mensch. Er ist ein genialischer Mensch. Aber damit ist es nicht getan.

Auch mir hat er geholfen in Moskau, und ich danke ihm dafür. Er ist, meine ich, an seinem Platze, und die russische Revolution brauchte ihn und braucht ihn noch.

Er ist danach keine Revolutionsgewalt, sondern ein Revolutionsschimmer, ein Aufblitzen der Revolution. Somit kündigt er an und lenkt er auch. Er hat gelitten für das Proletariat. Das schon ist ein Leuchten. Der ganze Mensch flimmert, er ficht, er eifert für die Revolution. Er ist der Lassalle der Internationale. Das ist wohl das Richtige.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter