Proletarisches Meeting

Am Ende der Roten Straße, der proletarischen Kernader Moskaus, liegt der Proletarische Park. Früher der Zoologische Garten. Es gibt nur noch wenig Tiere dort. Die Käfige am Eingang, eine lange Käfigreihe, sind leer. Aber sonst ist nichts zerstört. Auf dem Felsen im Parksee sitzen Wasservögel, und die Hallen sind meetingbereit.

Eine große Halle, ein hallenartiger Saal mit Lichtwirkungen wie in einem Riesenzelt. Das Licht schießt derart wuchtig durch die große Tür, daß es die Decke fast durchsichtig macht.


Vorn, an den Seiten der Bühne, einige Holzlogen. Auf der Bühne ein kleiner Tisch mit dem Versammlungsvorstand. Vor der Mitte dieses Tisches der Vorsitzende des Rayons der kommunistischen Partei. Ein kleiner, schwarz- und langbärtiger, elegantgliedriger Arbeiter, den wir schon kannten. Er ist im Auslande gewesen und spricht Sprachen. Er redet schnell, sozusagen zierlich heftig, die Hände oft auf dem Rücken und die Kernstellen selbst beklatschend. Es ist das anscheinend eine russische Rednersitte. Dieses Klatschen bedeutet nicht Selbstbeklatschen, sondern Unterstreichen des Wichtigen und Verbeugung vor dem Ehrwürdigen. Das Publikum klatscht mit. Oder das Publikum beklatscht zuerst die Kernstelle und dann klatscht der Redner mit.

Neben ihm ein Mann mit Blondmähne. Ein weiches Knochengesicht. Ein sanftes Führergesicht. Halb Weib, halb Held. Es ist der erste Führer der Roten Ukrainischen Armee. Später spricht er, so dröhnend, so das Publikum mit den Händen hebend, so die ganze Halle durchjagend mit seiner Stimme, daß er wie ein Orkan wirkt. Er spricht von der Pariser Kommune, er spricht Blöcke in das Publikum, er schleudert seine Fäuste hinein in das Volk, er ist ganz Selbstvergessen. Ein inniges Feuer sprüht aus ihm, er ist Schwert und Flamme. Auch wir sprachen, begrüßten und versprachen. Ich spreche laut, über 5.000 Menschen weg, man versteht mich in der letzten Ecke. Aber dieser Mann sprach, fegte, raste durch die Zuhörer, hämmerte gegen ihre Köpfe, schüttelte sie, riß an ihnen wie an jungen Bäumen. Ein gewaltiger Sprecher, ein Truppensprecher, ein Heerschausprecher. Man atmete auf, als er endete, denn dieser Druck war unerträglich geworden.

Meetings sind Bandwürmer in Moskau. Doch das Publikum ist geduldig, jubelt immer wieder, lauscht und spitzt, geht mit. Es ist aufmerksam, durchflattert nicht die Reden mit Eckgemurmel. Es ist prachtvolles Publikum für einen Redner. Still und begeistert, schlürfend und explosiv. Niemals hatte ich ein solches Arbeiterpublikum vor mir. Die deutsche Zuhörerschaft ist sichtbarer erregt, verwöhnter, muss öfter herangeholt werden an die Tribüne. Sie ist vielleicht kritischer, erfahrener. Aber der Redner ist vor ihr angestrengter, gespannter, denn er muss jeden Augenblick fesseln, wenn ihm das Publikum nicht entgleiten soll.

Überall in Moskau braust es auf, wenn das Wort Spartakus fällt. Es ist sozusagen die Firma der deutschen Revolution. Der Vorsitzende sprach das Wort, sprach den Namen Karl Liebknecht, und doppelter Jubel war im Saal. Von der Wirkung dieses Namens werde ich noch sprechen. Sie ist ungeheuer.

Es wurde eine Resolution gefasst, einstimmig angenommen und beklatscht. Dann wurden wir in eine Holzloge gebeten, denn nach einer Pause sollte die Vorführung beginnen.

Das war nicht Großes Theater, das war Proletarisches Theater. Auch noch nicht Neukunst, proletarische Kunst, aber das war doch schon Proletarisches Theater.

Denn dieses Publikum war nur Proletarierpublikum, und die Hinnahme des Vorgeführten, des Vorgesungenen, Vorgesprochenen war von einer die Brust anwehenden Selbstverständlichkeit, von einer Kindhaftigkeit sondergleichen.

Zuerst wurden einige bezügliche Szenen gespielt, worin, historisch gestaffelt, Volkslieder vorkamen. Beispielsweise ein Wolgaschifferlied, ein schwermütiges Treidellied, ein Dahintreibelied, ein breites Flusslied, ein Gorkilied. Die letzte Szene spielte am Tage der Niederkartätschung demonstrierender Proletariermassen vor dem Winterpalais in Petersburg (1905). Ein Verwundeter wankte herein, ein stolzes Lied, ein zorniges Lied wurde über dem Blut gesungen.

Dann sangen Künstler und Künstlerinnen, deren Namen anerkennend geflüstert wurde, Lied auf Lied. Schwere Melodien, Dorfschäkereien, stampfende Lieder, juchzende Lieder, auch die Internationale. Sie sangen immer wieder, sie wiederholten das Gesungene, wenn das Publikum ,,bis, bis“ rief. Neben mir saß ein krauser, apfelbackiger Dickkopf, der ganz aus dem Häuschen war. Es war ein Proletariermädel von vielleicht 15 Jahren. Sie raste, sie schwitzte vor Raserei, sie war ganz aus dem Häuschen. Sie paukte mit ihren ,,bis, bis“ auf mein Trommelfell. Ich war völlig erschüttert.

Aber im Mittelgang war etwas, das mich nicht losließ. Dort stand ein Mädchen, spargelzart, von einem roten Schleier umhüllt. Das kleine Bäuerinnengesicht mit dem halbstumpfen Naschen war sichtbar, und das schwarze Haar schimmerte durch den Schleier. Sie lehnte sich mit dem Kopf gegen einen Riesenkerl, einen blondkurzhaarigen russischen Cherusker. Er hatte den Arm, den rechten Arm um sie gelegt und schleierte sie mit den Augen an. Er hielt sie fest, denn sie weinte fast bei jedem Sang. Sie war durchschüttelt, unendlich ergriffen und jammerte sich aus an der starken Brust. Es war ein Proletarierdenkmal, ein Primitivitätsdenkmal, was ich dort sah. Ich musste immer wieder diese Gruppe ansehen, die in dem Gewimmel einsam stand.

Auf der Orchesterbrüstung saßen Kinder. Man ließ sie sitzen, man holte sie nicht mit überlegenem Fingerschrei herunter. Sie beugten sich staunend hin nach der Bühne. Sie lachten, zwitscherten und murmelten traurig, wenn ein Wehmutslied kam, wenn der Sang den Tod eines Proletarierhelden beklagte.

Zuletzt kam ein Knabe, ein Proletarierknabe auf die Bühne. Vielleicht 12 Jahre alt. Er sprach schmetternd ein proletarisches Lied. Man kannte ihn. Er war schon, das sah man, ein Versammlungsgedichthersager, ein Meetingsprechgewohnter. Er war frisch, setzte das rechte Bein energisch vor und forcht sich nit. Aber er blieb stecken. Es ging nicht weiter, er zog an dem Vers, er baute improvisierend an ihm, aber es ging nicht. Das Publikum lachte, klatschte, tröstete ihn. Frauen herzten ihn, so daß er wieder glücklich wurde. Er wurde nicht behechelt. Er war eben stecken geblieben, das war alles. Er hatte ja das Beste gewollt.

Schlussansprache, Händeklatschen, Vorhang, Nachhausegehen.

Beim Ausgang sagte jemand hinter mir: Das ist sicher ein deutscher Genosse, der kriegt die Pfeife nicht aus dem Maul.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter