Plakate

Plakate findest du an allen Mauern, in tausend Läden Moskaus, an Telephondrahtträgern, in Stuben, in Fabriken, überall findest du Plakate. Bildplakate zu Propagandazwecken. Etwa ein Proletarierfelsen mit der roten Fahne darauf, an dessen Fuß das kapitalistische Schiff zerschellt. Oder ein Plakat zur Werbung für die kommunistischen Samstage mit der Schilderung der Faulheitsfolgen und daneben der Arbeitsresultate. Oder ein Plakat mit Bildangriffen auf den alten fetten Zarenbeamten, den dicken Popen und den spreizigen Militär. Plakate mit roten Sternen Werbeplakate der kommunistischen Partei, auf denen ein Arbeiterzug an den Repräsentanten der alten Gesellschaft ablehnend vorbei zieht, hinein in ein Haus, über dessen Giebel die Parteiinitialen stehen.

Doch das sind nicht die interessantesten Plakate. Bemerkenswerter, bedeutungsvoller sind Plakate anderer Art. Da liest man an der Mauer, daß irgendwo Arbeiterkurse abgehalten werden über Weltanschauungsfragen, Dichtung, naturwissenschaftliche Probleme mit Exkursionen, über Bakteriologie, Geologie, Landwirtschaft, Tierkunde, Wirtschaftskunde, Fabrikbuchführung, Finanzkunde usw. Völlig gratis natürlich.


Ein anderes Plakat fordert Erfindungslustige und Erfindungstalentierte auf, irgendeinen Ersatz zu erfinden. Denn es ist Rohstoffknappheit in Russland. Beispielsweise einen Seifenersatz. Für die Erfindung wird eine Prämie von 25bis 30.000 Rubel ausgeschrieben. Das Erfundene wird ausprobiert. Es wird verteilt und das Publikum wird befragt, ob die Seife brauchbar ist. Die Ankündigung einer Seifenverteilung zu Prüfungszwecken las ich schon in Jamburg in einer Moskauer Zeitung. Dieses Verfahren ist sehr empfehlenswert. Dem deutschen Volke hängte man im Kriege jeden Ersatzdreck auf, ohne vorher zu fragen. Es bekam Schokoladenpulver aus Ton und Lehm, Eimehl aus Kreide, Tortenaufläufe aus Knochenleim und sonst noch allerlei übertünchten Gestank. Hätte man das Volk vorher gefragt, so wäre die Ersatzstofffabrikation zwar nicht so mannigfaltig, aber sauberer und ehrlicher geworden.

Selbstverständlich ist auch das Studium an den Konservatorien gratis, wie ja in Russland überhaupt kein Schul- und Studiengeld mehr bezahlt wird. Es gibt zwar noch Privatlehrer, die Honorar nehmen, zum Beispiel Sprachlehrer, aber Schul- und Studiengelder gibt es nicht mehr. Da preist das Plakat eines staatlichen Konservatoriums Musikgeschichte an, einen Kurs über Volksmusik, Physiologie des Atmens, Instrumentaltechnik usw. Die Konservatorien sind nicht etwa überlaufen. Das Gratisstudium scheint schon jetzt eine Qualitätssiebung zu bewirken. Früher studierte jeder Finger- und Stimmtrottel, wenn nur der Papa Geld hatte. Das sogenannte Bildungsmonopol war ein Trottelmonopol. Die Beseitigung des Bildungsmonopols bedeutet Qualitätsbefreiung. Der Musikschwindel, der ekle Pädagogenschwindel, die Reklamewirtschaft, das Abjagen der Schüler hört auf.

Wieder auf einem Plakat ruft irgendein Rayon, das heißt die Arbeiterpartei eines Rayons, zu einem Diskussionsabend über Kunstfragen auf. Man stellt sich hin und diskutiert frisch darauflos, platzt gegeneinander, florettiert mit Sophismen, ist geistreich oder lahm, je nachdem. Jedenfalls kratzt so etwas den Verstand auf, ölt die Denkbahnen ein und macht geistesgeschmeidig. Der sogenannte Musiksalon mit den Limonadengemütern, Lockenfrechheiten und schlechtgebrauten Tees hängt einem schon zum Halse heraus. Es ist meistens ein Kuppelsalon, d. h. nicht etwa ein Salon mit Kuppel.

Ein anderes Plakat kündigt eine Industrieausstellung an mit einem Podium, auf dem Leute sich über Grundsätze technischer Erziehung aussprechen.

Die Wirtschaftsabteilung des Moskauer Stadtsowjets veranstaltet einen Diskussionsabend über das Thema: Wie soll man Gemüse bauen?

Ein Plakat bittet das Publikum, mehrere Redner (Fachleute) anzuhören, die über die Technik des Lehmbaues sprechen werden. Sie werden zeigen, daß schon im Altertum mit und aus Lehm gebaut wurde, sie werden die ökonomischen Vorteile des Lehmbaues erörtern und sie werden versuchen, die Hörer für den Lehmbau zu begeistern. Nicht etwa eine Rentabilitätsgruppe, ein Konsortium oder einen schlafenden Wirtschaftsminister, der nicht einmal telephonieren kann, wollen sie begeistern, sondern das Volk. Hier muss ich nun doch einmal ekelhaft werden. Der Essig kommt einem hoch beim Rückdenken an diese Impotenz deutscher Minister. Man hat ihnen die Arbeiterbauten sozusagen auf dem Präsentierteller gebracht. Aber es war da ein hochbezahlter Schlaftrottel, der nicht einmal telephonieren konnte. Er berief sich auf den Instanzenweg, auf die Zuständigkeit und schlief weiter. Am anderen Tage veröffentlichte er eine Ab- und Aufwiegelungsrede, deren Dummheit, Sprachunsinnigkeit und Tertianerflachheit nicht mehr überboten werden kann. Der Essig steigt einem auf, die Schwefelsäure kommt hoch, wenn man sich dieses Idioten entsinnt.

Wieder ein Plakat kündigt Vorträge über Forstwesen an.

Daneben ein Aufruf der Sozialrevolutionäre gegen die Polen, nicht weit davon Aufforderungen zu Disputen über Religion oder über technische Fragen.

Die Sowjetrepublik treibt energisch Sportpropaganda. An allen Ecken, Mauern und sonstigen Gelegenheiten findet man Sportplakate. Wer Lust hat, kann Sportsmann werden. Es bedarf dazu keiner Privatyacht, keiner Tennisplatzabonnements und keiner kostspieligen Ruderklubhäuser.

Zu allen Fachveranstaltungen werden die besten Lehrkräfte herangeholt. Eintrittsgelder gibt es nicht. Das Volk wird nach und nach vertraut mit allen Gründen und Möglichkeiten der Wissenschaft. Die Diskussionen über Kunst, Philosophie, Religion, Politik sind Befreier aus Dumpfheit, Verlegenheit, Schüchternheit. Man lernt seine geistigen Kampfkräfte kennen, es ist eine gute Schule. Auch das ist nur ein Anfang, aber es ist doch ein Anfang. Ich glaube, kein halbwegs gesunder Mensch wird diese Betätigung tadeln. Völker sind anregungshungrig, aufklärungshungrig. Wer Proletarier kennt, wer sich in sie hineingefühlt hat, weiß, wie stark dieser Hunger ist.

Man sieht diesen Hunger in Moskau morgens an den Zeitungsständen. Die Arbeiter stellen sich an, sie bilden lange Ringelschwänze wie in Berlin an den Zigarrenläden. Jeder Arbeiter liest in Moskau mehrere Zeitungen. Man liest in Moskau die Plakate, man liest die angeklebten Depeschen der Rosta, der offiziellen Depeschenstelle. Man kennt schon die Artikelschreiber, ihre Sprache, die Schärfe ihrer Waffe.

Hat eine Gruppe etwas auf dem Herzen, so plakatiert sie den Schmerz. Will einer etwas, so redet er von der Mauer und später von der Tribüne. Tausend Sprechgelegenheiten gibt es in Moskau, wenn man nur etwas zu sagen hat.

Alle Völker sind klarheitshungrig. Ich glaube, die Zeit beginnender Klärung ist gekommen. Auch in anderen Ländern wird schon mehr und anders plakatiert. Nicht nur in Russland. Plakate sind Volksseelensprecher, Tendenzsprecher, Willenssprecher. Sie sagen, ob ein Volk nach oben oder unten will. Es ist doch ein Unterschied zwischen den Plakaten der Schleiertanzunternehmungen Berlins und den Plakaten Moskaus. Ich habe das nicht etwa politisch gesprochen. Ich sage nur, was ich sah. Nicht mehr und nicht weniger. Ich muss das wiederholen, sonst hält man mich für einen Tendenzhalunken.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter