Ohne Alkohol

Erleichterungsvorbemerkung: Ich kann nicht weiter schreiben, ich muss mich erst erleichtern. Sonst kann ich nicht weiterschreiben. Da hat Frau Snowden neue, hohe, feste gelbe Lederschuhe bekommen, damit sie sich Russland ansehen sollte. Da hat sie von ihrem Mann einen herrlichen Hut bekommen, mit Hermesflügeln daran, damit ihr Gehirn nicht von der russischen Sommersonne gestört würde. Aber die Stiefel, die hohen, gelben, festen Lederstiefel und der herrliche Hut mit den Hermesfittichen haben nichts genützt. Der Hut hat Frau Snowden nicht vor der Sommersonne geschützt, und in den Stiefeln ist sie zwar durch russische Städte und über russische Wege gegangen, nicht aber durch Russland. In der ,,Vossischen Zeitung“ hat sie einen Humbug losgelassen. Einen Humbug, sage ich euch, sie hat etwas von Karl Marx erzählt, etwas Russlandbezügliches. Dieses ist ohne jeden Verstand, und es zeigt, daß Frau Snowden nicht nur Russland, sondern auch Karl Marx nicht gesehen hat. Sie erzählt da ferner etwas von der russischen Landwirtschaft, was gar nicht stimmt, und sie erzählt etwas von den Städten, die sie gar nicht begriffen hat. Sie ist wie viele andere durch Russland geführt worden, ohne auch nur eine Spur vom Wesen Sowjetrusslands profitiert zu haben. Aber sie urteilt. Sie wurde im Automobil spazieren gefahren, Ausstellungen und Heime wurden ihr gezeigt, Städte und Dörfer. Aber arbeiten muss man, meine liebe Hochschäftige, Flügelhütige, arbeiten muss man, sonst versteht man nichts von Russland. Als Frau Snowden Moskau verließ, waren die Sohlen ihrer Hochschäftigen noch völlig gesund. Man hat es mir gesagt. Als unsere Delegation Moskau verließ, waren sämtliche Sohlen und noch einiges andere kaputt. Hier ist der Unterschied, Flügelhütige, Hochschäftige, geliebte Harmlose mit der englischen Energie und einem Blick wie, na wie, ich mag es gar nicht sagen.

Aber, nicht nur Frau Snowden war ohne Alkohol, ohne Branntwein, sozusagen ohne Spiritus in Moskau. Ich habe viele Leute in Moskau, viele Leute mit Spiritus gesehen, aber nicht mit Alkohol. Viele waren berauscht und keiner so nüchtern wie Frau Snowden, aber betrunken war nicht einer. Berauscht waren viele von der Idee. Sie waren davon nicht so nüchtern geblieben wie Frau Snowden, die von keiner Idee berauscht wird, weil sie keine sieht. Sie sieht nicht die Sowjetidee und nicht die Marxidee. Die veranstaltet ein Geschmuse über Children, Future, Humanity.


Also: ich sah keinen Betrunkenen, nicht einen einzigen Betrunkenen sah ich in Moskau. Trunksucht ist eine Sozialkrankheit für Russland, eine soziale Krankheit, die ausgerottet werden muss und bei Gott schon ausgerottet ist. Ich will nicht behaupten, daß es überhaupt keinen Betrunkenen mehr in Moskau gibt. Aber es gibt keine Trunksucht mehr in Moskau. Es gibt (Relata refero) keine Trunksucht mehr im russischen Heere, keine Trunksucht mehr in Russland, so weit der Sowjetarm greift.

Kennt ihr die Geschichte des russischen Branntweinmonopols? Diese Saufgeschichte, diese Delirantengeschichte, die Geschichte eines Wahnsinns, mit dem der Staat sich finanzierte? Kennt ihr die Geschichte dieses Branntweinmonopols? Es ist eine Volksverseuchungsgeschichte, eine Volksverdummungsgeschichte, die Geschichte eines Millionenmordes, einer hundsgemeinen, staatlich hochgezüchteten Meuchelei. Die ganze Welt hat gegen das russische Branntweinmonopol gewettert, gegen diese Schnapsgemeinheit. Die deutsche Presse hat dagegen gewettert, die englische, die amerikanische, jedes Antischnapsblatt in der Welt hat dagegen gewettert. Weshalb erkennt nicht jetzt jedes Antischnapsblatt der Welt diese Sozialtat, diese Ausrottungstat, diese ungeheure Ernüchterungstat, diese Gesundungstat der Sowjetregierung an? Das könnt ihr doch wenigstens anerkennen. Die Beseitigung der Prostitution und die Verjagung des Schnapsteufels könnt ihr doch anerkennen. Mehr verlangt man in Moskau nicht von euch.

Kennt ihr die Belehrungserzählung, die Warnungserzählung, die Erziehungserzählung Tolstois gegen den Schnapsteufel? Für die Gesundheit der Bauern. Der Moskauer Proletarier musste im Frieden Schnaps saufen. Er musste sich mit Schnaps auf den Beinen halten, bis die Beine ihn nicht mehr hielten, bis er umsank und verreckte. Der Staat verlangte von ihm, daß er Schnaps soff. Das Branntweinmonopol holte seine 600 Millionen Rubel jährlich aus den Bauernherzen, Bauernlebern, Bauernhirnen und Bauernnieren. Es holte seine 600 Millionen Rubel jährlich aus den Herzen, Lebern, Hirnen und Nieren der Industrieproletarier. Es machte ganz Russland besoffen, es versaute ganz Russland. Das war, ihr bestreitet es doch nicht, eine Mordgemeinheit, eine Meuchelgemeinheit, eine Vergiftungsgemeinheit sondergleichen.

Es ist nicht Tendenz, was ich euch jetzt erzähle. Es ist Wiedergegebenes, es ist die Erzählung eines Mannes, dem ich vertraue. Der sagte mir: Die weißen Heere sind, von anderem abgesehen, schnapsverseucht gewesen. Die Koltschakarmee war eine Taumelarmee. Man erzählt in preußischen Geschichtsbüchern von spritleckenden russischen Soldaten im Siebenjährigen Kriege. Die Weißen, erzählte mir jener Mann, haben nicht nur geleckt, sie haben sich vollgeschlaucht. Diese Taumelarmee kämpfte gegen eine nüchterne Armee, und die nüchterne Armee siegte. Immer werden die nüchternen Armeen siegen, immer wird die Nüchternheit siegen. Nicht die Nüchternheit von Frau Snowden, die gar keinen Rausch kennt. Aber die Alkoholenthaltsamkeit, die Kokainenthaltsamkeit, die Enthaltsamkeit von allen Reizmitteln.

Berlin, wie bist du verschweint!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter