Nachtgang in Moskau

Ich sagte schon, daß keine Huren streichen. Bei Tag nicht und nicht bei Nacht. Auch in der Nacht sind die Straßen Moskaus dirnenfrei. Man wird nicht angelümmelt, angeschielt, es lockt keine mit kosender Benennung des Körperumfanges. Solche Bazillen bemerkte ich nicht in Moskau. Bei Tage nicht und nicht bei Nacht.

Die Nacht ist nicht dunkel in Moskau. Es ist keine weiße Nacht wie in Wjatka, in Helsingfors oder zwischen den finnischen Schären. Es ist nicht mal eine Dämmernacht. Aber es ist auch keine Schwarznacht, keine Tintennacht. Es ist eine halbrosige Nacht.


Nur wenig Laternen leuchten an den Straßen. Die Nacht leuchtet in Moskau. Auch die Bolschewistennacht. Das Leuchten der Moskauer Nacht war kein Monopol des bürgerlichen Lichts. Die Nacht ist nicht revolutionär. Ihr ist das System völlig gleichgültig. Sie bringt Ruhe ohne Rücksicht auf das System.

Nach 10 Uhr abends entleeren sich die Theater, Konzerthallen, Vortragssäle. Aber in den Familienzimmern ist noch Leben, und auf den Boulevards beginnt der Trubel erst. Gegen 1 Uhr ist es still auf dem braungrünen Gürtel Moskaus und auf den Straßen.

Gegen l0 Uhr im Mai versank die Moskauer Sonne. Eine Beseligungssonne, eine selige Sonne. In allen Kuppeln darf sie glitzern, sie hat einen Spiegel mit tausend Facetten. Sie regenbogent im Untergehen in diesen goldenen Spiegeln. Es ist eine farbige Sonne, eine vor dem Untergang noch einmal aufgehende Sonne, aufgehend in tausend Kuppeln Moskaus.

Dann ist es still. Die Wachen sind verstärkt. Die braunen Soldatenwachen in den Türnischen, vor den Toren, auf den Kreuzungen. Männerwachen und Frauenwachen, das Gewehr mit dem Lauf nach unten geschultert oder das Gewehr zwischen den Knien oder in dem mauerlehnenden Arm.

Wir gingen von einem Besuche beim Deutschen Rat 3 Uhr nachts nach Hause. Es war ganz still in den Straßen. Fast hallten die Straßen wie deutsche Kleinstadtstraßen in Mondnächten. Wachen dösten. Ich sagte meinem Begleiter: Welch ein Unsinn in der europäischen Presse. Röchen die Leute doch nur einmal diese Stille. Gingen sie nur einmal durch diese Straßenstille Moskaus. Er nickte, er wollte antworten. Da krachte, fünf Schritte vor uns, ein Gewehrschuss. Er jagte die Stille in alle Ecken, er hieb sie von dannen, er peitschte sie durch die Straße.

Was war das? Menschen gingen vorbei, blickten nicht einmal nach dem Wachtposten, der geschossen hatte. Wir gingen an dem Posten vorüber und wieder schoss er. Was war los? Wir erfuhren es in dieser Nacht noch nicht, und wir waren beunruhigt. Herrschte doch noch Terror in den Straßen Moskaus?

Am anderen Tage sagte man mir: es sind junge Milizer, Greenhorns mit dem Gewehr, Knallsüchtige, knallsüchtige Männer und Frauen. Sie dürfen nicht knallen, und deshalb knallen sie. Es ist eine explosive Disziplinlosigkeit. Ein Fingerzucken am Abzug, und draußen ist die Kugel. Nicht in einer Häusermauer sitzt sie, sie fliegt an einer fehlbezielten Katze vorbei oder in die Luft zwischen den Häusern.

Die Fingerzucker werden bestraft, wenn sie gemeldet werden. Es ist Munitionsverschwendung, es ist Ungehorsam, es ist kindisch. Noch einige Male hörte ich in folgenden Nächten solche Knallerei. Dann war wohl ein Donnerwetter dreingefahren. Es wurde nun ganz still in den Straßen Moskaus. Die Gewehre schliefen. Man hatte, glaube ich, den einen oder anderen ins Loch gesteckt.

Jede Frau kann unangesprochen über Moskaus Nachtstraßen gehen. Miss Harrison, die mutige Weltberichterstatterin, ging jeden Abend gegen 11 Uhr ins Auswärtige Amt. Gegen 2 Uhr oder später noch in der Nacht kam sie zurück. Sie erzählte eines Mittags: In Berlin sprach mich ein Monokliger an. Einer, der bis ins Hirn gebügelt war, ein Handküsser, ein Fingerspitzennehmer, ein Armsüchtiger. Ich habe ihm, erzählte sie, am Siegestor eine Niederlage bereitet. In Moskau, sagte sie, bin ich durchaus unangesprochen, nicht einmal von Blicken angesprochen. Das sagte mir eine Amerikanerin, die was auf Gentilezza hält. Sie wollte das den Landsleuten mitteilen, den Landsfrauen insbesondere. Es ist tatsächlich so, es ist kein Schwindel. Es ist kein Anhalter Bahnhof, es ist keine Friedrichstraße, es ist kein Kurfürstendamm, es ist die nachtstille, die gefahrlose, rücksichtsvolle Moskauer Straße.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter