Moskauer Zeit

Die Uhr geht vor in Moskau, die Sommeruhr geht Stunden vor. Die Arbeit beginnt daher sehr früh und endet sehr früh. Mittags, nach Berliner Zeit, schließen die Bureaus und die Fabriken. Es ist gut so, denn der Erholungsdrang kann den Tag ausnützen. Moskau ist erholungsbedürftig. Die Moskauer Nerven sind keine Friedensnerven mehr. Sie brauchen Spaziergänge, Hingestrecktsein, Lässigkeit.

Allerdings gibt es auch Nerven in Moskau, die von den Peitschungen nicht wegkommen. Die Verwaltungsleiter schuften 12 Stunden, 14 Stunden und mehr. Tschitscherin ist solch ein Schufter, und viele andere mühen sich von früh bis spät. Sie sind rastlos, weil Kräftemangel herrscht und weil das Arbeitsquantum gerade jetzt riesenhaft ist. Tschitscherin beginnt die Arbeit spätnachmittags und endet sie gegen 6 Uhr früh nach Moskauer Zeit. Aber das sind Intensitätsausnahmen.


Man hat Zeit in Moskau. Man hatte immer schon Zeit in Moskau, und auch heute noch hat man Zeit. Russland ist weit und die Zeit ist lang in Russland. Es kommt nicht auf eine Stunde mehr oder weniger an.

Ich war oft ungeduldig, ich habe mit dem Fuße aufgestampft, auf Tische geschlagen, ich konnte mich mit der Moskauer Zeit nicht befreunden. Wohl mit der Sommerzeit, nicht aber mit dem Zeitgefühl der Moskauer.

Ich arbeitete dort mit einem prachtvollen Menschen, mit einem Wirtschaftskenner, einem jungen Menschen, der aber allerlei kannte. Mehr kannte, als viele Ältere, und den man auf einen falschen Platz gestellt hat. Auch so etwas gibt es in Moskau. Es ist ein Organisationsmangel.

Dieser Könner besaß keine Uhr. Einmal kam er um 10 Uhr früh ins Bureau, dann wieder um 9, dann um 11, dann um 12. Die Uhrlosigkeit störte ihn gar nicht, und als unser Delegationshäuptling ihm eine Wertheimuhr (Stahlgehäuse mit Unzuverlässigkeit) schenkte, ließ ihn das ziemlich kalt. Meistens vergaß er den Besitz dieser Uhr.

Dieser prächtige Mann und andere prächtige Männer bestellten mich für eine bestimmte Zeit. Ich war natürlich da. Mit sogenannter militärischer Pünktlichkeit, preußisch-militärischer Pünktlichkeit, d. h. 10 Minuten vor dem Termin. Aber sie waren nicht da, oder sie lagen noch im Bett, oder sie hatten ihren Tee noch nicht getrunken, oder sie hatten vor dem Studiumbeginn noch irgend etwas zu erledigen. Es gab auch Pünktliche, Preußen an Pünktlichkeit, Militärpreußen an Pünktlichkeit. Aber sie waren selten und sie hatten in Deutschland gearbeitet.

Ich glaube, Lenin hat schon gegen diese Schluderei gewettert. Sie muss raus, sie ist ein Werkfehler, ein Uhrwerkfehler in den Russen. Ein Werkfehler wie die Versprechungen, die aus süßem Herzen, aus innigem Herzen gegeben und nicht gehalten werden. Das muss raus aus den Russen, sonst werden sie noch allerlei Peinlichkeiten erleben.

Fürchterlich ist folgender Unfug: Du sprichst mit einem Bureauleiter. Der Faden spannt sich von dir zu ihm, von ihm zu dir. Die Tür geht auf und irgendeiner stürzt sich in den Faden hinein, zerreißt ihn und spricht rücksichtslos an dir vorbei mit dem Bureauleiter. Du birst beinahe vor Wut, du stampfst, du zitterst, denn du hast keine Zeit. Der Fadenzerreißer oder die Fadenzerreißerin geht weg, lächelnd als wäre nichts geschehen, und gleich darauf kommt wieder ein Zerreißer und spricht an dir vorbei. Es ist keine Rationierung in diesem Konferenzbetrieb, die Zeit wird verspritzt, der Bureauleiter verliert die Übersicht. Ordnung fehlt, Aufreihegefühl, Hintereinandergefühl. Lenin hat das Gefühl und andere haben es auch. Bei ihnen geht alles hübsch hintereinander, nacheinander, angereiht, geordnet, registriert, angemeldet, abgemeldet, angefertigt. Ordnung, Ordnung, Ordnung. Segensreiche.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter