Lenin und Liebknecht

Kein Moskauer Bureau, kein Sowjethausflur ohne ein Leninbild. Ohne ein Bild des halblächelnden Leninkopfes mit der etwas schiefen Haltung am Schreibtisch. Mit dem weichen Kragen (festgestärkte Kragen gibt es in Moskau nicht, denn es gibt keine Stärke). Überall hängt dieses Bild. Man sieht alle Größen dieses Bildes. Lenin, Lenin überall. Man sieht auch Bilder von Radek, Sinowjew, Bucharin, Balabanowa. Man sieht Gruppenbilder von den Hauptpersonen der Dritten Internationale, so gestellt, daß Lenin oben ist. Man sieht in vielen Stuben, vielen Schaufenstern, vielen Bureaus Marxbilder, besonders ein Marxporträt, das meines Erachtens nicht sehr treffsicher ist. Aber mehr noch als den Marxkopf, häufiger noch als den Marxkopf sieht man den Leninkopf.

Lenins Geschichte, Lenins Entwicklungsgang ist bekannt. Seine Persönlichkeit wurde oft schon gezeichnet. Vielleicht weiß man noch nicht, daß auch er eine Zeitlang einsam stand, sogar bespöttelt von seinen Genossen. Man nannte ihn einen Bremser Radek und Bucharin waren nicht eins mit ihm. Lenin hatte Recht — für Russland. Das soll nicht bestritten werden. Er hatte Recht — für Russland.


Heute sind ihm alle zugetan. Auch die politischen Feinde. Kein Gegner spricht mit Missachtung von diesem Mann. Kein Menschewist, kein Sozialrevolutionär, kein Kerenskianer, kein Monarchist. Sie achten ihn alle. In einer Bourgeoisfamilie, von der ich noch sprechen werde, lobte man seinen Idealismus und seine Gerechtigkeit.

Lenin ist ein ungeheurer Einfluss auf die Russen. Auf ganz Russland. Er ist ein warmer Strom, Man fürchtet ihn aus Liebe. Er ist in allen Bureaus, bei allen Arbeiten. Er ist die letzte Instanz. Man weiß: er schuftet von früh bis spät. Seine Arbeit ist eingeteilt, ist wirklich organisiert. Seine Arbeit mahnt, reizt an. Er ist das Beispiel. Mit ihm schreckt man, mit ihm befeuert man. Zeigt er sich, so jubelt man ihm zu. Leute, die ihn häufiger sprachen, loben den feurigen Diplomaten Lenin, den vorsichtigen Gratbeschreiter, den Jupiter, den Lächler, den Strafer Lenin. Er ist einer der besten Publizisten Russlands. Seine Broschüren sind Schriften eines guten Sprachgeigers, oft eines Wort- und Begriffschürfers, eines Systemdenkers. Sie sind klar, geschlossen in sich, prunklos und echt. Man braucht den Folgerungen nicht nachzugeben und wird sie doch loben. Sie sind unaufdringlich wie er selbst, der Mann mit der Riesenmacht aus dem Vertrauen des Proletariats und der simplen Lebensweise. Er tafelt nicht, er isst, er sättigt sich. Er bezieht nicht mehr Gehalt, als ein Moskauer Arbeiter Grundlohn hat. 6.500 Rubel im Monat. Er wohnt im Kreml. Aber er wohnt nicht als Fürst im Kreml, er wohnt sozusagen auf der Flucht vor dem Andrang im Kreml, vor der Liebe, vor den Klagen, den Beschwerden. Er wohnt im Kreml als ein Symbol. Er ist gar nicht mehr so sehr der Revolutionsführer wie ein Ausdruck des Volkswillens, der Volkssehnsucht, der Entwicklung. Er leitet nicht mit dem Schwert, es ist kein Diktator von oben, er ist getragen und hat die Zügel, während ihn der Rücken des Volkes freiwillig reiten lässt.

Eines Tages, als ich mit einem Trustleiter arbeitete, kam ein Brief aus Lenins Bureau. Der Trustleiter wurde bleich. Aschbleich wurde er, riss hastig den Umschlag auf und atmete dann schnell und lächelnd. Weshalb wurden sie bleich? fragte ich ihn. Es ist ein Brief Lenins, antwortete er. Ein Brief Lenins ist kein gewöhnlicher Brief, kein Brief irgendeines Volksbeauftragten, es ist ein Brief Lenins. Er ist wie eine Toga, er hat Glück oder Schmerz in sich. Ein aberkennendes Wort Lenins schneidet tief. Der Mann hat eine unerhörte Erziehungsgewalt, eine Aufreißungsgewalt, eine Emporhebungsgewalt, wie sie kein russischer Zar besaß. Lenin, das ist heute Russland. Für ihn oder gegen ihn, Lenin ist heute Russland. Das ist so, es ist tatsächlich so, die Leute sagen es auf der Straße in Moskau.

Karl Liebknecht ist ein Heiliger in Russland geworden. Hundert und mehr Bilder von ihm sah ich in Moskau. Ich sah Bilder des Vollkraft-Liebknecht, Bilder des ermordeten Liebknecht, des Liebknecht auf den Schauhausbrettern, des maiglöckchenbekränzten Liebknecht auf dem weißen Totenbett mit roten Tulpen.

Nach Karl Liebknecht werden Arbeiterklubs genannt, Straßen, Regimenter. Erwähnt man das deutsche Proletariat, die deutsche Revolution, so wird auch Liebknecht erwähnt.

Aber er ist nicht nur identisch mit der deutschen Revolution, er wächst weit über die deutschen Grenzen hinaus. Liebknecht ist heute in Russland in allen Proletarierschulen der Freiheitsheld. Man hat ihn besungen, man will ihm nacheifern, man liebt ihn wie man eine gütige Naturgewalt liebt. Er ist sozugen in Moskau der Siegfried des Proletariats.

Nie wäre Liebknecht so gewaltig geworden, hätte man ihn nicht ermordet. Erst jetzt beginnt er zu wirken. Er wird zu einer Kraft von Fabeldruck, zu einem Ruf weit über Deutschland hinaus.

Die Bilder von ihm, die in Moskau hängen, sind oft schwachähnlich. Nur wenige ,,sprechende“ Bilder von ihm sah ich in Moskau.

Man fühlt in Moskau: Liebknecht wird eine Legende.

Er wird ein Heldensang, ein Kreuzigungsweg, ein Golgatha des Proletariats.

Liebknechts Tod war ein Opfertod. Das spürt man in Moskau.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter