Landa

Landa ist ein blonder Jude. 26 Jahre alt. Vielleicht etwas älter, aber nicht viel. Ich sprach schon von ihm, von seinem Lederanzug, von den luftumschlossenen Zehen und von seinem Everclean.

Aber das ist nicht das Wesentliche an Landa. Das Wesentliche ist der fast unglaubhafte Blick über das Ganze, ein fabelhafter Kombinierverstand, eine Durchstrahlungsbegabung sondergleichen.


Er war im Mai 1920 Sektionschef in der Auswärtigen Abteilung des Obersten Volkswirtschaftsrats. Er arbeitete täglich mit mir, oft viele Stunden. Er zeigte mir die Organisation der örtlichen Wirtschaftsräte, der Gouvernementswirtschaftsräte und der Bezirkswirtschaftsräte. Er zeigte mir ferner das Wesen und die Organisation der russischen Kleinindustrie und manches andere noch dazu.

Er hatte einen Gouvernementsvolkswirtschaftsrat in der Ukraine geleitet. Er kannte die Wirtschaftspsychologie der Ukraine wie seine Ledertasche. Durch ihn, durch seine Hinweise habe ich begriffen, daß die Polen den Krieg verlieren müssen.

Er wohnte im Mai 1920 in einem Dunkelzimmer des Metropol. Ohne irgendwelche Ansprüche. Dieser Mann ist von einer fast taprigen Bescheidenheit. Er ist mit allem zufrieden. Sein Zimmer ist so dunkel und unmöbliert, daß er auf einer Bank im Gärtchen vor dem Metropol arbeitet.

Oft trifft man Landas in Russland. Wegabgewendete, Überbescheidene, doch Flammende. Menschen, die sich gar nicht kennen, die Himmelsturmkraft in sich haben, aber aus Taprigkeit in einem unmöblierten Zimmer sitzen.

Ich weiß nicht, ob dieser prächtige Mensch, dieser fast universalkluge Mensch, ein Leiter ist. Aber er stand zu meiner Besuchszeit an einem falschen Platz. Solche Menschen muss man schubsen, man muss ihre Augen in sie hineinwenden. Sie kennen sich selbst nicht, man muss sie zum Studium ihrer selbst zwingen, damit ihre Kräfte genutzt werden. Es gibt noch viele Landas in der Welt. Es sind vollsaftige Veilchen, Kraftverschwender in den Ecken, Verschüchterte. Sie werden Zugtiere, wo sie doch Leithammel sein könnten.

Auch in Deutschland kenne ich einen Landa. Was ist aus ihm geworden? Bis jetzt wurde er Demokrat. Aber er ist noch nicht völlig verloren. Vielleicht kann man ihn noch einmal vornehin stellen; wenn er sich umsieht, wird er erkennen, daß er immer schon vornehin gehörte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter