Kleidung

Als ich im Winter 1919 in der Lessing-Hochschule zu Berlin eine Vorlesung über Sozialisierungsfragen hielt, war auch die Rede von der Bekleidung der sozialistischen Gesellschaft. Eine Frau fragte ängstlich: Werden alle Menschen gleichgekleidet sein? Ich beruhigte sie. Die Angst vor der Sortenöde sei übertrieben, sagte ich ihr. Wenn sie weiter keine Widerstände gegen den Sozialismus hätte, so könnte sie sofort Sozialistin werden.

In Moskau ist von einem Kleidungsumsturz nichts zu merken. Es gibt allerdings noch keinen Sozialismus in Moskau, sondern erst die Anfänge des Sozialismus. Einen Kommunismus gibt es erst recht nicht, sondern nur eine kommunistische Partei. Aber selbst die ausgeregelte sozialistische Gesellschaft und weiter die ausgeregelte kommunistische Gesellschaft (wenn man eine kommunistische Gesellschaft so nennen darf) würde nicht durch Kleiderrevolutionen gekennzeichnet sein. Es ist sogar eine außerordentliche Mannigfaltigkeit der Kleidungsfarben und Kleidungsschnitte denkbar. Davon hängt das Glück der Welt nicht ab.


Jedenfalls ist die russische Revolution eine Kleiderrevolution bisher nicht gewesen. Wohl hat sie eine Verschärfung des Kleidermangels zur Folge gehabt. Denn die Armee braucht ungeheuer viel Tuch, und es herrscht Schneiderknappheit für Zivilzwecke. Tuch gibt es genug. Eine Milliarde Arschin [altrussische Elle, 1 Arschin = 28 Zoll = 71,12 cm] ist fix und fertig und 700 Millionen Arschin könnten in kurzer Zeit gewebt sein. Aber vom Tuch zum Rock ist noch ein ziemlich weiter Weg. Das ist besonders dem Marxstudenten bekannt, der sich mit Marxens Wertlehre herumgeplagt hat. Wäre der Weg vom Tuch zum Rock in Russland kurz und bequem, so könnte das ganze Volk neu eingekleidet werden.

Man sagte mir, die Arbeiter Moskaus seien jetzt besser gekleidet als im Frieden. Ich hatte keine Vergleichsmöglichkeit, da ich im Frieden Moskau nicht besucht habe. Ich kann aber konstatieren, daß die Bekleidung der Arbeiter, die ich sah, keineswegs trostlos war. Zerlumpte Arbeiter habe ich nicht gesehen. Die Arbeiter der Fabriken, die ich besuchte, waren durchweg gut gekleidet. Ich sah Riesenmengen von Arbeitern bei großen Veranstaltungen, speziell bei Meetings. In Lumpen ging keiner. Auch die Frauen nicht. Die Arbeiterfrau in Russland trägt noch immer die bekannte Kopfbedeckung. Sie ist sehr einfach gekleidet, aber die Kleidung ist sauber. In dieser Beziehung hat die Revolution schon allerlei geleistet.

Dass die Moskauer Arbeiterschaft nicht in Lumpen geht, dafür sorgen schon die Kleidungszuweisungen. Im Frieden verdiente der Moskauer Arbeiter durchschnittlich 79 Kopeken täglich. Im Kriege stieg der Lohn, aber auch die Preise stiegen. Der Durchschnittslohn war so minimal, daß an gute Kleidung überhaupt nicht gedacht werden konnte. Ebensowenig an eine Wohnung, die auch nur den geringsten Gesundheitsanforderungen entsprach. Das Lohneinkommen reichte gerade für eine Kellerwohnung, für minderwertiges Brot und für Schnaps. Im Frieden kostete ein Zimmer im Zentrum Moskaus mindestens 15 bis 20 Rubel pro Monat, eine Kellerwohnung ungefähr 3 bis 5 Rubel. Selten leistete sich der Arbeiter ein Zimmer über dem Erdboden. Er war froh, wenn er in einer Fabrikkaserne wohnen konnte. Heute ist für ihn die Wohnungsfrage grundsätzlich gelöst. Es gibt noch viele Schwierigkeiten, aber Wohnungssorgen braucht der Arbeiter nicht mehr zu haben. Wenn behauptet wird, das Proletariat habe die Bürgerlichen aus den Wohnungen vertrieben, so ist diese Behauptung unzutreffend. Im allgemeinen konnten die Familien in ihren Wohnungen verbleiben, mussten sich jedoch, gemäß der Kopfquotenberechnung, Zwangseinquartierung gefallen lassen. Ich war in einer ,,bürgerlichen“ Wohnung in Moskau, deren Räume durchaus zureichten. Es war noch die alte Wohnung der betreffenden Familie.

Auch die heutige Löhnung des Moskauer Arbeiters (durchschnittlich 6 — 7000 Rubel monatlich ohne Prämien) würde nicht zum Ersatz abgetragener Kleider ausreichen. Wenigstens nicht zum Ersatz aus dem freien Markte, wo ein Anzug ungefähr 50 — 60.000 Rubel kostet. Der Arbeiter ist von der Kleidungsrationierung abhängig. Straßenkleidung bekommt er allerdings nur wenig, der Hauptwert muss zunächst auf die Zuteilung von Arbeitskleidung gelegt werden. Diese Arbeitskleidung wird nach Normalmustern angefertigt. Ich sah einige Normalmuster in der Bekleidungsabteilung der Textilgewerkschaft in Moskau. Aber das sind erst Anfänge. Allgemein durchgeführt ist die Zuweisung noch nicht. Die Kriegsrüstung frisst eben das meiste weg. Als ich in Moskau war, erzählte man mir beispielsweise von der Fertigstellung einer Riesenzahl Mäntel für die Armee an der polnischen Front.

Die Kleidungsstücke in den Sowjetläden und Sowjetbasaren sind sehr wohlfeil. Aber es ist eine höchst umständliche Sache. Man muss bis zu einem solchen Kleidungsstück einen Instanzenweg wandern, und auch nach glücklicher Durchwanderung erhält man das Kleidungsstück nicht sofort. Weibliche Sowjetangestellte klagten mir sehr über Kleidermangel, und meine Übersetzerinnen in Moskau baten mich, ihnen kein Geld, sondern Kleidungsstücke zu geben. Sie nahmen u. a. meinen Schlafanzug, aus dem sie sich Flanellblusen anfertigen wollten. Auch litten sie unter Strümpfemangel. Eine der Übersetzerinnen erzählte mir, daß sie gezwungen wäre, aus zwei Strümpfen einen zusammenzuschustern. Allerdings besitzen die russischen Frauen fast durchweg eine außerordentliche Schneiderbegabung. Die meisten fertigen ihre Kleider selbst, und oft nähen sie auch das Schuhzeug selbst. Es sind dann allerdings Stoffschuhe, deren Lederbesohlung wohl dem Schuster vorbehalten bleibt.

Die Strumpfstoff- und Farbennot Russlands hat eine höchst eigenartige Mode zur Folge. Viele Frauen tragen weiße Socken, die nur wenig über den Schuhrand herausragen. Sonst sind die Beine nackt. Diese Nacktheit stört keinen Menschen in Moskau, gibt nicht den geringsten Anlass zu erotischen Zynismen und wirkt auch keineswegs indezent [aufdringlich]. Ich glaubte erst, es wäre das eine alte Sitte der Sommerhitze wegen, hörte dann aber, daß die Strumpfstoffnot die Ursache sei.

Kleidungselend bemerkte ich in Moskau nicht. Wohl gibt es, wie auch in anderen Großstädten, Bettler in Lumpen, aber eine kleidungsverlumpte Stadt ist Moskau nicht. Man fragt sich allerdings: wie kann die Stadt, die noch mindestens 1 ½ Millionen Einwohner hat, sich in diesen Zeiten so ausreichend bekleiden? Die Russen Moskaus wissen selbst keine Antwort darauf. Oder sie sagen: Das Leben hilft sich. Ebenso wie Moskau sich nährt und gutgenährt aussieht, kleidet es sich auch.

Es gibt in Moskau noch immer eine Kleiderschichtung. Es gibt Kleidervernachlässigung, Kleidereinfachheit und Kleiderluxus. Noch immer rauschen Damen ins Theater, noch immer duftet es aus parfümierter Blusenseide, noch immer tänzeln Geschniegelte in Taillenanzügen oder in frischen Russenjoppen. Aber es gibt auch Fleißige, Unentwegte, der Zerschlissenheit nicht Achtende. Es gibt auch Kleiderärmliche, Nichtschieber, Nichthintenrumkäufer, die mit dem Geringsten zufrieden sind. Ich sah ideale Hosenlöcher, ideale Rockfransen und Schuhe, aus denen die idealen Hühneraugen trotzig in die Luft blickten.

Das Schuhwerk. So viel elegantes Schuhwerk wie in Moskau, elegante Männerstiefel bis zur Dickwade und besonders elegante Frauenschuhe, nicht ganz bis zur Dickwade, habe ich kaum in einer anderen Stadt gesehen. Es gibt in Russland noch sehr viel Oberleder (ich glaube, man kann sogar Oberleder ausführen), aber es fehlt an Sohlleder, und doch sind die eleganten Schuhe besohlt. Ich sah entzückende lederne Kirgisenstiefel, von Frauen getragen. Ich sah Hochschuhe, Halbschuhe, Buntpantoffeln, bebänderte Schuhe, rosettierte Schuhe, lackierte Schuhe. Die Moskauer Frauen können sich über Schuhnot nicht beklagen. Es herrscht, offiziell gesprochen, schwerer Schuhmangel, aber die inoffizielle Beschuhung ist ausreichend. Jedenfalls war es so zur Zeit meiner Anwesenheit in Moskau. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, Nöte und Kärglichkeiten. Auch Schiefabsätze und sonstige Schuhunmöglichkeiten habe ich erblickt. Aber eine Schuhverlumpung sah ich so wenig wie eine Kleiderverlumpung.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter