Kirchen und Kapellen

Vierzig mal vierzig Kirchen und Kapellen hat Moskau. Vierzig mal vierzig sagt der Russe, wenn er eine große Zahl bezeichnen will, wenn er ihre Gewalt, ihre Mannigfaltigkeit, ihr Gewimmel ausdrücken will. Ich weiß nicht, wie viele Kirchen und Kapellen Moskau hat. Vielleicht sind es mehr als 1600, vielleicht weniger. Es ist auch gleichgültig. Jeder, der Moskau besucht hat, weiß, daß Moskau eine Kirchen- und Kapellenstadt ist, eine überkuppelte, überfingerte Stadt, eine Stadt mit tausend Glocken, mit hunderttausend Betern und Beterinnen, mit zehntausend oder mehr Popen.

Das ist auch heute noch so. Die Kapellen und Kirchen stehen noch. Manche sind etwas fassadenverwittert. Sie haben nicht mehr die Pflege, die der Zäsaropapismus ihnen angedeihen ließ. Ihr Äußeres ist von der Revolution etwas angeknabbert. Aber sie stehen noch. Sie stehen noch, und nicht viele von ihnen sind geschlossen. An allen Ecken stehen sie, in Höfen stehen sie, auf Steinhügeln, auf Plätzen, in Klostermauern, überall stehen die Kirchen und Kapellen. Sie läuten noch die Andachten ein und aus, auf einigen sitzen und stehen Fromme wie auf den Dächern der Minaretts, halbasiatisch, lässig, ihren Gott wie einen Onkel behandelnd.


Ich sah Kapellen, in denen den ganzen Tag gebetet wurde. Ich sah Kirchen, die niemals am Tage entvölkert waren. Es gibt auch noch Osterprozessionen in Moskau, noch Kirchen und Kapellen, in denen Heiligenbilder noch immer um Wunder angefleht werden. Es gibt noch goldstrotzende und mit vielen Edelsteinen krustierte Bilder und Rahmen in den Kirchen und Kapellen. Man weiß nicht recht, wer die Kirchen und ihre Popen unterhält. Aber sie werden unterhalten, obwohl der Staat nichts mehr mit ihnen zu tun haben will.

Obwohl der Staat sich nicht mit der Trennung von der Kirche und der Trennung der Schule von der Kirche begnügt, sondern bestrebt ist, ,,das Band zwischen den Ausbeuterklassen und der Organisation religiöser Propaganda vollständig zu zerstören, durch eine umfassend organisierte, wissenschaftlich aufklärende und antireligiöse Propaganda zur tatsächlichen Befreiung der werktätigen Massen von religiösen Vorurteilen. Dabei ist jede Verletzung der Gefühle der Gläubigen sorgfältig zu vermeiden, da das nur zur Festigung des religiösen Fanatismus führt“ . Es ist also keine Toleranz, sondern ein Kampf. Man trennt sich nicht nur von der Kirche, man bekämpft Sie. Aber die Kirchen und Kapellen in Moskau scheinen sich wenig um den Kampf zu kümmern, um die Aufklärungsplakate, die Bissigkeiten gegen die alte, oft verfaulte Popenwirtschaft, gegen die schon viele Russen vor den Bolschewiken eifrig gefochten haben. Leo Tolstoi voran.

Ich sprach schon von der Kapelle der ibirischen Madonna vor dem Roten Platz. In ihr glüht und glimmert es von Kerzenlicht, von Gold, von Edelsteinen, und immerfort wird in ihr gebetet. Hier ist wohl die heftigste Mirakelinbrunst in Moskau, jene Inbrunst, die gläubig jubelte, als die Revolutionskugeln ein religiöses Wunderzeichen auf einem Kremlturm verschonten. Oft stand ich vor dieser Kapelle mit dem kleinen, hoch gelegenen, verwitterten Steinvorhof, mit den Bettlerinnen davor. Hier, vor dieser Kapelle, gibt es die meisten Bekreuzigungen in Moskau. Immer wieder sieht man Sichbekreuzigende an den Kirchen und Kapellen vorübergehen, einen Augenblick stillstehen, einen Spruch murmeln. Die Revolution hat die Kirche nicht oder noch nicht getötet. Und sicher gibt es Leute in Moskau, viele Leute, die der Kirche ein längeres Leben zusprechen als der Revolution. Auch Opferstöcke gibt es noch, und sie sind gewiss nicht leer. Die Popen schreiten nicht selbstbewusst, es ist kein Herrscherschreiten mehr, aber sie gehen ungestört. Ich sah lachende Popen, ich sah straßenbetende Popen, ich sah schleichende Popen, verschmutzte Popen und sogar einen eleganten Popen, einen Priester, wie ihn die französischen Romanschriftsteller lieben. Auch eine Art Rasputin sah ich, einen bauernkraftstrotzenden Popen, mit Langschäften, schwarzem Riesenbart und Lockaugen.

Wundervoll ist jene Großkirche mit der breiten, hellen Goldkuppel, in die sich abends die Sonne hineinsaugt, aus der die Sonne gespien wird, geblitzt wird, feuergeschleudert wird, daß man geblendet steht. Diese Kirche wächst fast frei aus einer lieblichen Landschaft mit hohen Quadern, gewaltig aufragend. Es ist eine Wunderkuppelkirche, eine Belebungskuppelkirche auch für denjenigen, der nicht an den Gott dieser Kirche glaubt. Sucht diese Kirche, geht an der Kremlmauer entlang. Ihr werdet sie bald finden, wenn ihr an einem Sommerglühabend sucht, an einem Tintenhimmelabend, an einem heißen Moskauer Abend, der das Herz jagt und zugleich beruhigt.

Aber das Wunder, das wirkliche Wunder, ist die Basiliuskirche. Es ist gar keine Kirche, es ist eine Phantasie, es ist ein Kuppelmosaik, ein unsagbares Märchen, eine Farbenverschwendung, eine Farbenerfindung. Man glaubt kaum, daß ein Mensch, daß ein Architekt diese Kirche gebaut haben kann. Sie sieht immer anders aus, morgens anders als abends, mittags anders als nachmittags. Kommst du von der Moskwabrücke her, so ist sie wie ein Schiff mit zwiebelartigen, bunten Mastkörben. Kommst du vom Roten Platz her, ist sie wie eine Baukastenburg. Sie hat die niedlichsten Fenster, sie hat Vergitterungen und Verwitterungen von unglaublichem Altersreiz. Sie hat überhaupt keine Symmetrien und ist doch ein Organismus. Sie sieht aus wie nacheinander gebaut und ist doch zusammengebacken. Manchmal wirkt sie gehäuft, dann wieder zierlich gestaffelt. Manchmal ist sie groß, manchmal klein. Sie ist eine Seelenverschieberin, eine Berückerin, ein holder Augenschreck, eine Narrung. Sie ist das Wundervollste, was ich je gesehen, und gegen sie verblasst die ganze Kuppelfront, der ganze Kuppelwald der ewigen Kreml. Keiner besuchte sie, ein altes Gerüst stand um einen ihrer Türme, als ich in Moskau war. Ich sah ihr Inneres nicht, und sah es doch, da ich ihr Äußeres sah. Sie ist ein Epos, ein kleines lyrisches Gedicht, sie ist eine Ballade und eine Niedlichkeit, sie ist eine Mutter und ein helles, junges Mädchen, sie ist alles, was dein Herz begehrt. Willst du nicht nach Moskau gehen, um den beginnenden Sozialismus zu betrachten, gehe nach Moskau und betrachte die Basiliuskirche.

Es heißt, ein Architekt Iwans des Schrecklichen habe sie gebaut, und der Schreckliche habe den Erbauer getötet, damit er nicht eine zweite Kirche gleichen Wunders bauen könnte. So wurde mir erzählt. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber möglich ist es.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter