Im sibirische Hotel ob. V.-W.-R.

Hier wurde früher heftig gesumpft. Es war das Sibirische Hotel. Ein ungeheurer Kasten. Hier wurden Sektpullen gegen Spiegelscheiben geschmissen, hier raste die Zigeunergeige und das Zigeunermädchen, hier schwollen die Händlermillionen. Es gab allerdings Spezialspiegelzerschmeißlokale in Moskau, wo die Sektbesoffenheit Pflicht war. Ich teilte schon mit, daß ein Hauptschlemmerlokal jetzt Großspekulantengefängnis ist. Auch ein Kloster ist jetzt Gefängnis. Ein schönes Kloster. Eine Wache steht davor, Stacheldraht umdroht das Kloster. Auch hier sitzen, sagte man mir, Spekulanten.

Der Riesenkasten ist eine primitive Arche. Sehr nüchtern. Überall Bretterverschläge, Wände aus rohen Brettern. Man merkt die Herrichtungseile. Kleine Vestibüle sind stumpfglanzig. Die Sofas sind abgemattet, die Stuhlschweifungen sind nicht mehr kühn. Hie und da noch ein größerer Hotelspiegel.


Es ist ein Bienenkorb. Der Strom von der Straße zum obersten Stockwerk bricht nicht ab. Die Kette bleibt unzerrissen. Denn hier konzentrieren sich die Wirtschaftsgewalten Russlands, von hier gehen die Kompetenzerteilungen aus. Die Wirtschaftskompetenzerteilungen sind die wichtigsten Kompetenzerteilungen in einem Lande, das von Wirtschaftsnot gequält wird. Aber die Nachsucher, die Wünscher sind nicht mehr die früheren Nachsucher und Wünscher. Nicht mehr schwerbauchige Kaufleute, Tausendrubelscheinzücker. Es sind meistens beamtete Arbeiter oder Sowjetbeamte mit der einfach emblemierten Mütze, die alle Sowjetbeamte tragen.

Durch einen Bretterverschlag gelangt man ins Zentrum. Dort sitzt der Präses des Obersten Volkswirtschaftsrates. Zu meiner Besuchszeit der Stellvertreter des Vorsitzenden, Miljutin. Der Vorsitzende, Rykow, war damals in Baku. Baku ist jetzt ein äußerst wichtiger Ort, Baku ist das Naphthaherz Russlands und Naphtha ist die Hauptspeise der russischen Industrie und der russischen Lokomotiven. Die Naphthareservoire in der Prochorow-Fabrik waren leer. Die meisten Naphthareservoire im Moskauer Rayon waren leer. Es war also notwendig, daß ein Hauptkompetenzler, daß Rykow nach Baku ging. Man sagte mir, die Naphthalokomotivfeuerung reiche jetzt schon bis Orel. Aber das genügt nicht, Baku muss Ströme durch ganz Russland schicken, Baku muss den Transport erleichtern, muss die Naphthakessel füllen, Baku ist das Heil. (Aber vergesst die Kohle nicht!)

Miljutin ist ein noch junger Mensch mit großen schwarzen Augen und kleinem schwarzen Knebelbart. Eine Telephonbatterie steht in seinem Zimmer. Sie wird teils von ihm selbst, teils von seinem Sekretär bedient, einem scharfäugigen Mann im Russenhemd. Es ist ein großes Eckzimmer mit vielen Fenstern. Fortwährend werden Schriftstücke zur Unterschrift auf Miljutins Tisch gelegt. Es ist Achtung hier, Reverenz. Es ist nicht anders als in einem Ministerbureau oder in dem Chefkabinett eines großen Industriewerkes. Vielleicht etwas lebhafter, etwas unabgeschlossener.

Miljutin (vielleicht 40 Jahre alt) kommt nicht aus der Wirtschaftspraxis. Ein gewisses Staunen ist in seinen Augen. Ich hatte eine lebhafte Unterredung mit ihm, die ein Dolmetscher vermittelte. Wir sprachen über die Auswanderung deutscher Arbeiter nach Russland, über meine Wirtschaftsstudien in Russland, über die Eindrucksergebnisse dieser Studien. Disziplin, sagte er ergänzend, nachdem ich ihm die Haupttriebfaktoren genannt hatte. Es war Hochachtung in diesem Bureau, hier war auch kein Fadenzerreißen, sondern ein Nacheinander.

Vor der Tür zu Miljutins Bureau steht ein Wünschertrupp. Während der ganzen Bureauzeit. Zwei Mädels mit Kurzhaarköpfen flitzen hin und her: vom Vorraum ins Miljutinbureau, vom Miljutinbureau in den Vorraum. Neben dem Vorraum ist ein kleines Zimmer, in dem die Flitzmädel sich ausruhen und Tee bereitet wird. Denn noch immer wird in russischen Bureaus Tee getrunken. Glühheißer Tee bei glühheißem Wetter. Siedender Tee. Eine schauderhafte Sache für einen Mittelklimamagen, der an Glühtagen kühles Wasser syphonweise säuft. Oder kühles Selterwasser, kühles Zitronenwasser. Der Speiseeis löffelt und sich nach kühlen Brausen sehnt. In Moskau trinken sie bei Stechsonne siedenden Tee. Eine schauderhafte Sache. Aber es ist, rühmte man mir, das beste Mittel gegen Hitzequalen. Sascha lachte mich aus, wenn ich den Siedetee mit kaltem Wasser versetzte.

Lange Gänge mit nummerierten Türen, wie in europäischen Ämtern. Aber keine Klubsessel in den Bureaus. Nur hie und da ein großer Stuhl mit Lehnen. Sonst einfache Holzstühle vor einfachen Tischen. Nichts für einen Kriegsgesellschaftler, für einen Z. E. Ger oder für einen Filmfabrikdirektor. Die Finanzabteilung, in der ich mit einem sehr klugen Menschen arbeitete, ist eine Bude, kriegsgesellschaftlerisch gesehen. Säße die Regierung in Petrograd, so hätte sie es besser. Moskau ist keine Regierungsstadt, Regierungsgebäude, Ämtergebäude gibt es dort nicht. Man musste die Hotels benutzen, einrichten, umrichten. Aber es geht auch so: mit Schwierigkeiten, mit häufigem Bureauwechsel, mit Bretterverschlägen und mit gutem Willen.

Alle Vorzimmer sind besiedelt. Von Wünschern besiedelt. In allen Vorzimmern sitzen Anmelderinnen, die oft zugleich Teebereiterinnen sind. In allen Bureaus sieht man die russische Rechenmaschine, die zum Russen gehört wie das Hemd. Man sieht sie in allen Läden, man sieht sie in Privatwohnungen, man sieht sie überall. Die Rechenkugeln schnucken, sie jagen hin und her, sie ordnen sich im Nu aus unter der flinken Hand. Revolution gut, dachte ich, Kopfrechnen schwach.

Im Haupteingang ist eine Wache. Eine Wache vor Gewehr wie in allen Ämtern und in allen Hotels. Aber diese Wache ist milder, als etwa die Wache im Kommissariat des Äußeren oder als die Kremlwache. Die Kremlwache ist die schärfste Wache Moskaus. Die Wache im Gebäude des Obersten Volkswirtschaftsrates verlangt dir den Pröpusk nicht ab. Der Strom rennt vorbei an ihr, unaufgehalten, spaltet sich auf den Etagen, fließt in die Gänge hinein und sickert in die Buresus. Er wirbelt nicht, er ist kein Durcheinander. Es ist ein Riesenbetrieb, aber es geht alles glatt ab. Glatter läuft dieser Strom hin und zurück, als schon die Wirtschaft läuft. In allen Bureaus hängen Graphiken und Statistiken, Abzirkelungen und Zustandsschilderungen der Wirtschaft. Es sind Sollzeichnungen, Sollaufzeichnungen. Habenzeichnungen, Habenaufzeichnungen sind es leider noch nicht. Aber man ist auf dem Wege, eines Tages wird man haben, was man will und soll.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter