Fabrikbesuch

Die russische Wirtschaft kann man nicht beherrschen. Wenigstens heute noch nicht, denn heute noch ist sie unübersehbar. Es ist ein Riesengebiet mit tausend Unterschiedlichkeiten des Arbeitscharakters, der Rohstoffvoraussetzungen, der Verkehrsmöglichkeiten, des Klimas, der Seelenverfassung.

Eine kapitalistische Wirtschaft, eine anfangssozialistische Wirtschaft ist überhaupt nicht beherrschbar und übersehbar. Kein Mensch in Deutschland kennt die deutsche Wirtschaft. Behauptet einer, die deutsche Wirtschaft zu kennen, so ist er ein Anmaßender, ein Frecher, ein Bluffer oder ein Esel. Man kennt noch nicht einmal die .Wirtschaft einer einzelnen großen Stadt. Auch nicht in den statistischen Ämtern, obwohl die Wirtschaftsstatistiker meinen, sie hätten die letzte Ecke der Wirtschaft ergründet. Sie kranken meistens an Schemaverblödung. Sie kennen das Leben nicht.


Einzelgebiete sind beherrschbar. Der Fühler, der Kombinierer, der Zahlenbeleber, der Tatsachenerweiterer sieht die Tendenz, die Entwicklungsrichtung einer Wirtschaft. Er erkennt sie sozusagen aus Stichproben. Erst die wahre sozialistische Wirtschaft wird eine Übersichtswirtschaft, eine Beherrschungswirtschaft sein. Aber so weit ist Sowjetrussland noch nicht. Die Registrierarbeit ist gediehen, erheblich gediehen, aber noch keineswegs zu Ende gediehen. Man weiß heute die Zahl der brachliegenden Fabriken, den Prozentsatz des Produktionsrückganges, die Zahl der arbeitenden und nichtarbeitenden Arbeitskräfte und dergleichen. Aber das ist noch keine Wirtschaftsbeherrschung, noch keine Wirtschaftsübersicht.

Fabrikbesuche, Stichprobenbesuche sind daher höchstens Tendenzenthüller. Aber auch das sind sie in diesem Stadium der russischen Wirtschaft noch ohne Obligo. Es gibt sozusagen Glaubensresultate, Vertrauensresultate, die allerdings schon Sicherheitsresultate für den Stichprüfer sein können.

Draußen, am Außenring Moskaus, am Ende der Karl-Marx-Straße, liegt eine kleine Fabrik, die sogenannte russisch-amerikanische Fabrik, betrieben und verwaltet von russischen Arbeitern, die in den Vereinigten Staaten Qualitätsarbeiter geworden sind. Eine Fabrik mit 120 Arbeitern. Es ist eine Werkzeugfabrik mit guten Maschinen, mit guter Leitung und mit guten Kräften. Ich sah Präzisionsresultate, wundervolle Millimeterarbeit, einfügbare, abgepasste, angepasste Stahlstücke, sauber geschnitten. Prächtige Bohrer und dergleichen. Die Einrichtung dieser Fabrik war noch nicht vollendet, aber die schon vorhandene Einrichtung zeigte deutlich den Qualitätscharakter dieser kleinen Fabrik. Es war für mich ein Vermischungsbeispiel, ein Beispiel der Erziehung russischer Arbeiter durch fremde Technik. Es ist das ein sehr wichtiges Problem für die russische Industrie wie für die russische Landwirtschaft.

Ein sehr freundlicher, sehr arbeitsfroher Arbeiter empfängt mich. Es war Fabrikpause. Und zwar Essenspause. Mittags gegen ½ 1 Uhr. Die Arbeiter und Arbeiterinnen aßen gemeinsam. Es gab eine Fischsuppe, Kascha, Brot und Tee. Das Essen war reichlich und genießbar. Sauber. Man setzte mir eine Portion vor. Ich kostete, obwohl ich appetitlos war. Es war sauber und genießbar. Der Besuchführer war durchaus zufrieden mit den Löhnen und der Verpflegung. Hier gab es erhebliche Prämien, denn es wurde Qualitätsarbeit geleistet. Man erzählte mir von Monatslöhnen bis zu 15.000 Rubeln bei guter und freier Verpflegung und bei Lieferung von Arbeitskleidung und Zuschusslebensmitteln zu niedrigen Preisen. Die Lohnsumme ist noch keineswegs hoch bei der geringen Kaufkraft des Geldes. Die meisten Arbeiter in Moskau erreichen sie nicht, die Angestellten erst recht nicht. Aber man kann nicht von einer wirklichen Hungersnot sprechen. Das wäre übertrieben. Deutschland hat schlimmere Kriegszeiten durchlebt, wenigstens die deutsche Großstadt.

Hier sah ich Arbeiter in der Normalarbeitskleidung. Weite braune Anzüge mit etwas pludrigen Hosen, aber aus haltbarem Stoff. Es sind Schutzanzüge, Schonanzüge. Sie sollen in Zukunft allgemein verteilt werden. Sie haben Ähnlichkeit mit den französischen Bergarbeiteranzügen. Sie sind bequem, der Arbeiter kann sich in ihnen bewegen. Ich blieb ungefähr eine Stunde in der Fabrik.

Am folgenden Tage besuchte ich mit einem Textiltrustleiter die Prochoroff-Manufaktur bei Moskau, eine der größten Textilfabriken Russlands.

Die Fabrik lag still, da kein Brennmaterial vorhanden war. Die Arbeiter reparierten und bewahrten den technischen Apparat. Wir gingen durch eine Kontrolle am Eingang der Fabrik. Ein Mitglied des Fabrikkomitees, begleitet von Spezialisten, führte uns.

Es war alles in bester Ordnung. Die Maschinen laufbereit, die Webstühle und Spindeln sauber, fix und fertig für den Betrieb. Alles ausgerichtet, reihenmäßig, sälelang. Öl troff und wurde täglich erneuert. Die Antriebsmaschinen waren geputzt, die Lampen an ihnen gerichtet. Die Schutzvorrichtungen waren tadellos.

Spinnerei, Weberei, Bleicherei, Maschinenhaus, Schaltbrett, alles stimmte. Die Besuchführer waren stolz auf den Zustand der Fabrik und konnten es sein. Nur Brennmaterial, und der Riesenapparat funktionierte am nächsten Tage. Die Leitungen spannten, die Höfe wurden gesäubert, vieles blitzte. Man wartete sehnsüchtig auf Brennmaterial.

Man zeigte uns die Tuchläger. Ungeheure Ballenstöße in Hallen und in Fabrikräumen. Genau registriert. Der Trustleiter machte eine Registrierungsprobe. Sie stimmte. Es war nichts vorbereitet für uns, unser Besuch wurde erst angemeldet kurz bevor unser Automobil abfuhr. Das heißt ungefähr eine halbe Stunde vor Ankunft in der Fabrik. Es war also keine Vorspiegelung, es waren Tatsachen.

Ich sah gute einfache Baumwolltuche. Ungeheure Mengen. (In der Fabrik Zündel bei Moskau sind die Zustände ähnlich.) Ich sah farbige, bedruckte Gewebe. Hübsche Muster. Es waren die bekannten Moskauer Tuche, die vor dem Kriege auch schon in Deutschland erschienen. Die Moskauer Textilindustrie ist eine durchaus modern eingerichtete Industrie, sie hat die besten Maschinen und die besten Methoden.

Dann besuchten wir den Speisesaal und die Küche. Ein großer Raum. Es wird schichtweise gegessen. Die Küche war gescheuert, die Kessel waren geschrubbt. Demnächst sollten neue Kessel eingebaut werden. Im Speisesaal Sowjetinschriften und Aufführungsgelegenheiten. Ein Meetingsaal.

Die Prochorow-Fabrik ist eine kleine Fabrikstadt, eine der großen russischen Manufakturen, die Städte sind. Das heißt, die Arbeiter wohnen in der Fabrik. Der Besitzer wohnte auf dem Fabrikgelände, in einer Villa, die jetzt proletarisches Kinderheim ist. Die Arbeiterwohnungen sind Kasernen und heißen Kasernen. Auch heute noch. Durchschnittlich wohnen in einem Zimmer 6 Personen. Die Arbeiter könnten bequemer wohnen, sie könnten größere Wohnungen in der Stadt haben, aber sie wollen auf dem Fabrikgelände wohnen. Der Arbeitsbequemlichkeit halber. Es ist ja nur ein Übergang. Aber dieser Übergang ist schon bedeutsam. Denn die Sauberkeit ist in die Kasernen eingezogen. Die Zimmerböden blitzten, das Bettzeug war durchaus nicht schmuddelig, die Kleidung von Mann und Frau war reinlich. Hier haben die Gesundheitspädagogen gute Arbeit getan. Die Gesundheitspädagogen in den Fabrikkomitees, die keinen Schmutz mehr dulden wollen.

Die Backöfen und Riesenteewasserkessel stehen vor den Etagengängen der Kaserne. Arbeiterfrauen backen und bereiten das Teewasser. Frauen und Männer waren gut genährt. Abgezehrte habe ich nicht gesehen.

Die Schulkinder (Schule und Spielplätze sind auf dem Fabrikgelände) werden im Sommer zur Erholung aufs Land gebracht. Die Villa des früheren Besitzers ist jetzt ein Kinder- und Säuglingsheim. Mit vielen Betten, mit glücklichen Schwestern, mit Spielsachen, mit Spiel-Sälen, mit Kinderbesuch, mit allem, was ein Kleinkopf wünscht.

Ich weiß nicht, wie viele Fabriken in Russland derart mustereingerichtet sind. Die Prochoroff-Fabrik ist eine Musterfabrik. In jeder Beziehung. Es ist ein Jammer, daß die Eisenbahn mobilbelastet und auch sonst leistungsschwach ist. Keinen Augenblick dürfte eine solche Fabrik stillstehen. Keinen Augenblick brauchte sie stillzustehen, denn die Arbeiter der Fabrik wollen arbeiten, rufen die Arbeit und hoffen jeden Tag auf die Arbeit.

Nach dem Rundgang lud man uns in das Sitzungszimmer des Fabrikkomitees. Wir wurden bewirtet. Über diese Bewirtung muss ich ein Wort sagen.

Zwei herzgrabende Ereignisse, zwei aufhellende Ereignisse habe ich in Moskau erlebt. Zwei wirklich herzgrabende Ereignisse, weit hellende Ereignisse: Ein Gespräch mit Krzyizanowski, dem Elektrizitätsherrscher Russlands, dem Freund Lenins, und jene Sitzung mit dem Fabrikkomitee der Prochörow-Manufaktur. Die Besprechung mit Krischanowsky deutete mir den ökonomischen Sinn der Revolution, die Sitzung mit dem Fabrikkomitee den psychologischen Sinn.

Es war, zum erstenmal für mich, eine Bewirtung aus eigenen Mitteln, aus eigener Kraft, aus eigener Gastgeberschaft, auf eigenem Produktionsboden des Proletariats. Eine ganz neue Welt in dem Sitzungszimmer des Fabrikkomitees der Prochoroff-Manufaktur. Ein Mitglied der Familie des früheren Besitzers war anwesend, ein Mitglied der einst sehr reichen mächtigen Textilherrenfamilie Prochoroff. Der Mann hatte sich eingefügt. Aber er war nicht mehr Privatgastgeber, Gastgeber waren die Arbeiter und er mit ihnen. Ihnen gehört die Fabrik. Sie gehört ihnen nicht im Privateigentumssinne, sie gehört ihnen im Sinne des Sozialismus. Es war eine ganz neue Gastgeberschaft, es war eine revolutionäre Gastgeberschaft, es war die Gastgeberschaft der neuen Zeit. Man stellte uns Fische hin, Tee, kleine Konfitüren, Brot, Zucker. Fische, Tee, Brot, Zucker aus der Eigenmächtigkeit des Proletariats, aus der Selbstbestimmung der Arbeiter. Dies allerdings war für mich die neue Welt.

Bescheidenheit, würdige Selbstverständlichkeit bewirtete uns. Über den Maschinen der Fabrik, in den Kasernenzimmern hängen Heiligenbilder, aber die Arbeiter sind nicht mehr demütig, nicht mehr geduckt.

Das ganze Fabrikkomitee mit dem Vorsitzenden war beisammen. Man erzählte von der Waffenverteidigung der Fabrik gegen die Konterrevolutionäre, und man zeigte sich bereit, die Fabrik wieder mit den Waffen zu verteidigen, wenn die Konterrevolution noch einmal angriffe. Die Arbeiterschaft dieser Fabrik hat die Fabrik, die Macht über die Fabrik, tatsächlich erobert.

Es gab Fragen und Antworten. Wir fragen nach den Aufgaben des Fabrikkomitees, nach der Geschichte der Fabriknationalisierung, nach dem Einfluss der Gewerkschaften auf die Administration der Fabrik, nach dem Einfluss der kommunistischen Fraktion in der Fabrik. Die Antworten waren klar, sehr bestimmt, fließend heruntergesagt. Ich hatte durchaus den Eindruck, verwaltungsfähige, leitungsqualifizierte Arbeiter vor mir zu haben. Kontrollbefähigte Arbeiter. Diesen Eindruck hatte ich durchaus. Ich weiß nicht, in wievielen Fabriken Russlands die Arbeiter leitungsbefähigt sind, aber die Arbeiter der Prochoroff-Manufaktur bei Moskau sind verwaltungsqualifiziert.

Man war froh mit uns in der grünüberdeckten Fabrik, man war glücklich mit uns in dem Bewirtungsraum, man war bescheiden, selbstbewusst, arbeitslustig und verteidigungsbereit. Ich glaube: wollte einer Sowjetrussland mit Militärgewalt erobern, er müsste Fabrik nach Fabrik stürmen, nachdem er die rote Front vernichtet hätte. Ich glaube, das wäre unmöglich, das ist unmöglich. Lord George hat schon recht: man kann Sowjetrussland nicht mit Waffengewalt erobern.

Ich hörte von russischen Arbeitsmängeln, ich sah russische Arbeitsmängel, ich werde davon noch sprechen. Aber die Arbeiterschaft der Prochörow-Manufaktur gab mir hohe Arbeitshoffnungen für Russland. Erziehungshoffnungen, Qualifizierungshoffnungen. Noch ist Russland nicht verloren.

Am nächsten Tage waren wir wieder Gäste in der Prochorow-Manufaktur. Wir nahmen teil an einer Sitzung der Kommunistischen Fraktion der Fabrik.

Es war ein kleines Meeting, sozusagen ein kommunistisches Familienmeeting. Man begrüßte uns, man setzte Hoffnungen auf uns, man verglich uns mit Lahmeren, man fasste eine Resolution und man bewirtete uns wieder. Es war wieder eine Herzlichkeit aus Eigenem.

Die kommunistischen Fraktionen, oft nur kleine Fraktionen, beherrschen die Fabriken. Nicht mit Terror, sondern mit Zielsauberkeit, mit Arbeitsbewusstheit, mit einem geraden Programm. Es sind keine Gewaltsfraktionen, doch es sind Disziplinierfraktionen, Musterfraktionen, d. h. Fraktionen von Musterarbeitern, von kommunistischen Samstagsarbeitern. Sie haben das Heft in der Hand, weil sie Beispiele sind. Sicher gibt es auch da Brüchigkeiten, aber die Herrschaft aus Beispiel, die Herrschaft aus Arbeitsbewusstheit, aus Programmfestigkeit ist Tatsache. Es sind Fagozytenfraktionen. Sie sollen die schlechten Säfte aufsaugen, wegfressen, vernichten. Die russische Revolution war eine Fagozytenrevolution. In meinem Buch: ,,Die Wirtschaftsorganisation Sowjetrusslands“ werde ich das zeigen und begründen.

Sie sprachen, wir sprachen. Sprechen und Versprechen, Solidaritätsversicherung hin und her. Begrüßungen, Innigkeiten, Händeklatschen, Bravos. Dann war ,,der offizielle Teil“ vorüber. Wir wollten gehen. Wir wollten uns drücken, d. h. wir wollten nicht durch die Mitte abziehen, da wir nicht stören wollten. Aber man zwang uns liebenswürdig durch die Mitte.

Während wir durch die Mitte gingen, an den Männern und Frauen vorbei, klatschte man. Man händeklatschte laut und innig, bis wir vom Raum aus nicht mehr zu sehen waren.

Jener schwarzbärtige, feingliedrige Meetingvorsitzende, mit den Sprachkenntnissen und der herzlichen Versammlungsenergie, begleitete uns zum Wagen. Der Vorsitzende der Fraktion ebenfalls. Winken, Abfahrt.

Diesen Besuch in der Prochorow-Manufaktur werde ich nie vergessen. Es war eine Revolutionsaufhellung, mehr als alle Theorie. Zum erstenmal begriff ich, was ich bisher nicht begreifen konnte, da ich es nur geahnt hatte. Begriff, was ich einige Zeit vorher in einer kleinen Schrift ,,Kommunismus“ niedergebracht hatte: die Psychologie der Revolution. Auch die Begrenzungen des Marxismus, seine Abgeschlossenheiten und das Überihnhinaus. Nicht etwa seine Überwindung, wohl aber seine Weiterführung, sozusagen die Psychologie des Zielmarxismus, des Endmarxismus, des guten Leninismus. Hier ist eine neue Aufgabe, eine große Aufgabe, vielleicht die größte Aufgabe der kommenden Jahrzehnte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter