Explosion

Ich kam vom Wirtschaftsstudium mit dem prachtvollen Stünkel (Metallorganisator). Der prachtvolle Landa ging mit mir. Wir gingen über eine Moskwabrücke. Die Kremlkuppelstadt glühte, das Basiliusschiff dämmerte vielfarbig.

Wir gingen über den Roten Platz. Schnelle Wolken kamen am Himmel auf. Ferne Schüsse. Da zerbrach eine Spiegelscheibe im Gebäude des Arbeitskommissariats. Scheibenbrocken fielen einem Passanten auf den Kopf. Er prustete und lief davon. Der Platz war sofort leer, die Ausgänge wurden durchjagt von flatternden Leuten, die Iberische Madonna war verlassen. Nur die Kerzen brannten noch vor ihr.


Neue Wolken schossen auf, unorganische Wolken. Keine Intervalldisziplin der Kanonenschüsse, keine Tempoabmessung. Ein scharfer Knall, ein Schwefelknall, ein dumpfer Knall, eine ganze Knallfamilie auf einmal.

Über den Theaterplatz flatterten die Leute. Spiegelscheiben barsten. Überall barsten Spiegelscheiben. Luftdruck presste sich gegen den Kremlmauerwinkel, breitete sich, dehnte sich auf dem weiten Platz vor der Kremlstadt, presste hinein in die Mjasnizkaja, drückte Scheiben ein und jagte die Menschen.

Die Stadt dröhnte, die Stadt zitterte, der Boden schlitterte, die Scheiben splitterten.

Was war los? In den Zeitungen stand eine Beruhigungsnotiz. Bei Moskau, so hieß es darin, würde in den nächsten Tagen Wald zu agronomischen Zwecken ausgerodet. Mit Sprengmasse. Aber das hätte nichts zu sagen.

Wir schimpften: wieder so ein russischer Organisationsunsinn, sagten wir. Wahrscheinlich hat man Sprenghaufen statt Sprenghäufchen an die Wurzeln gelegt, und nun frisst sich die Explosion unaufhaltbar weiter. So meinten wir.

Schwefelknall. Knall auf Knall, Faustknalle, Dreinschlageknalle, Druck- und Sprengknalle. Die Scheiben unserer Villa bogen sich. Gäste stemmten sich gegen die Biegung. Die Fliederdolden im Park der Villa fegten die Luft. Die Kinder kauerten und horchten ängstlich auf.

Das dauerte bis spät in die Nacht.

Was war los?

Am anderen Morgen sagte mir jener Textiltrustleiter, ein Munitionslager bei Moskau sei in die Luft gegangen. Ein Altmateriallager, aber immerhin ein Munitionslager. Kein Schwerschade, keine Kriegslähmung, aber ein Munitionslager. Es sei eine Schweinerei. Man wisse noch nicht, ob Selbstentzündung oder gegenrevolutionärer Anschlag. Außer Scheibensprung sei in Moskau nichts passiert.

Aber, sagte er, stolz atmend, um 11 Uhr abends war die ganze Kommunistische Partei Moskaus mobilisiert. An einem Ruhetage um 11 Uhr abends. Telephonorders, schnelle Weitergabe, und alles, Männer und Frauen, mit Gewehr, mit Abwehrentschlossenheit, mit Säuberungsentschlossenheit sei auf den Beinen gewesen.

Die Explosion habe also eine Wachsamkeitsgeneralprobe veranlasst. Das erzwungene Manöver sei geglückt. Die Partei in Moskau sei bereit, auch an Ruhetagen.

Bis dahin kannte ich diese Parteibereitschaft noch nicht. Ich wusste nichts von dieser Soldatendisziplin, von dieser ständigen Alarmbereitschaft auch in Ruhezeiten. Keine Alarmbereitschaft mit entsichertem Gewehr, aber eine Alarmbereitschaft mit dem Zielbewusstsein, mit dem Notwendigkeitsbewusstsein, mit dem Opferungsbewusstsein in jedem Gefahraugenblick. Nur wenige hatten gefehlt.

Gegen Morgen hatte die Knallerei aufgehört, die Scheibenspringerei, die Herzdrückerei. Selten habe ich im Westkriege eine solche Kanonade gehört.

Aber man ist in Moskau bereit, alarmbereit wie im Westkriege. Nicht mit entsichertem Gewehr, aber mit der Opferbereitschaft, mit der Disziplin, mit dem Zuhilfespringenmüssen, wenn Gefahr aufkommt; wenn schnelle, undisziplinierte Wolken, unorganische Wolken aufschießen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter