Die Engländer sprechen

Wieder im Großen Theater. Man stellte etwas an mit den Engländern, man beleckte sie, man bewedelte sie, man streichelte sie, man kitzelte sie mit Inschriften, Mahnschriften, Aufforderungssätzen. We are for children, for future, for humanity. Oder: We started the social revolution, we started it allone, let us go together to the end.

Oder: Man heißt sie mit Hinweis auf die neue Färbung Russlands willkommen: Welcome, comerades in red Russia.


Man passte sich ihnen also an, man suchte sie mit ihren eigenen Grundsätzen zu überzeugen, zu peitschen. Man liebte sie gar nicht, und doch waren sie von Liebenswürdigkeit umgeben. Alles das sollte Aneiferung sein. Es war meines Erachtens überflüssig. Denn englische Gewerkschaftsführer haben kluge Augen, sie haben Abschätzungsaugen, sie sehen wohl, was ist. Sie sind keine Zielseher, keine Problemmenschen, keine Wallungsleute, aber sie sehen, was ist. Sie sind mehr Gegenwarts- als Zukunftsschauer, auch wenn sie sich sehr revolutionär gebärden.

Denn einige von ihnen sprachen im Großen Theater, umgeben von vielen Sowjetführern (Lenin war nicht dabei) sehr heftig, sehr revolutionär. Sie sprachen Schweiß aus ihren Poren, sie schüttelten Fäuste, sie setzten energisch Füße vor, sie wurden heiser, und man bejubelte sie. Man verstand nicht, was sie sagten. Aber sie sagten es aus Überzeugung, aus Flamme in diesem Augenblick, vor diesem hilfshungrigen Publikum, vor diesem verlassenen Volke, das endlich einmal Frieden haben will. England ist Herr über Krieg und Frieden, und die englischen Arbeitervertreter sind keine Kleinigkeit in England. Mit vielem in Sowjetrussland sind sie nicht einverstanden, aber sie wollen dem Lande und auch dieser Regierung helfen. Sie lieben das System nicht für England, aber sie erkennen es an für Russland. Sie hätten es auch anerkannt ohne die Anfeuerungsplakate, ohne Streicheln und Peitschen. Denn sie sind klug und nicht kaltherzig. Dieser Besuch war doch ein Erfolg für Sowjetrussland.

Also sie sprachen: Rot zu ihren Köpfen, rot zu ihren Füßen, vor sich ein hilfshungriges Volk. Dazwischen einige Kritiker, einige bissige Anmerker, saure Kommentatoren. Die Arbeiter aber waren still und riefen Bravo. Zuletzt sprach Misses Snowden, eine korrekt bestiefelte Frau, zart aber nicht lieblich, bewusst und doch nicht kühlherzig. Keine zielbegeisterte Frau, keine Frau mit der roten Fahne, eine rosa Frau , wortmächtig aber blassfarbig. Sie sagte, wie sie es meinte. Sie sagte ab:

Go Your way, we go our way to the socialism!

Nach jeder Rede wurde der Wortlaut oder der Inhalt den Zuhörern übersetzt. Zuerst übersetzte die Balabanowa. Laut, fließend, ohne Stocken, fast Wort für Wort. Eine fabelhafte Sprachbeherrscherin. Alle gutgeschulten Russen sprechen mehrere Sprachen, die Balabanowa spricht sozusagen eine ganze Anzahl Muttersprachen. Nun verstand man, und man klatschte wieder. Es war kein Kommunismus, was da übersetzt wurde, was die Engländer gesprochen hatten, doch man klatschte dankbar.

Es sprachen Russen. Tomsky, der Vorsitzende des Gewerkschaftsverbandes sprach. Er sprach schnell, kernig, dem Publikum vertraut. Andere Russen sprachen, und immer war Jubel. Dann aber sprach Abramowitsch, der Menschewistenführer. Er sprach vor einem Publikum, das ihm nicht grün war, nur von kleinen versprengten Anhängergruppen begrüßt. Er war bleich, als er sprach. Er sprach, oft unterbrochen von heftigen Gegnerrufen. Er sprach glatt und mutig. Er nutzte die Anwesenheit der Engländer. Man wollte ihn zum Wortschluss zwingen, aber der Versammlungsleiter rief in die Menge: Benehmt euch wie Kommunisten! Er sprach zu Ende, er sprach lange Zeit, Koltschak riefen sie ihm zu. Er sprach weiter. Ich weiß nicht, was er sprach, ich weiß nur, daß er Seele sprach, daß auch er Inbrunst sprach. Wut sprach er, er sprach sich herunter, was ihn drückte. In großen Fragen sind die Menschewisten heute einig mit den Bolschewiki, besonders in der Frage Krieg mit Polen. Aber sie sind Oppositionspartei, und sie sind keine schwache Partei. Als er endete, war der Beifall wieder nur Anhängergruppenbeifall. Ablehnung sonst und Eisigkeit. Man fühlte, dieser Mann ist wohlgeachtet, aber nicht geliebt.

Dann aber kam wieder das Wunderbare. Schon während der Versammlung hatte das Publikum die Internationale gesungen. Jetzt sang es das Lied von der Roten Fahne. Es wurde getränkt von diesem Liede, Soldatenrhythmus war im Treppenabsteigen mit diesem Liede. Dumpfheit, Entschlossenheit, Gewaltigkeit war in diesem Massenliede. Hell ist der Aufklang dieses Liedes, wuchtig der Weitersang. Es ist ein Volkslied geworden. Langsam wiegte die Menge mit diesem Liede aus dem Theater, ganggeregelt von diesem Liede, gezügelt von ihm, geschoben von ihm, über die Treppen, durch die Ausgänge auf den weiten sonnigen Platz vor dem Großen Theater.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter