Der Krieg mit Polen

Eines Tages kam ein junger Kommunist ins Trustbureau. Der Leiter gab eine Unterschrift, und der junge Kommunist verabschiedete sich mit Händedruck von ihm.

Was haben Sie da unterschrieben, fragte ich. Es ist ein Frontschein, sagte er. Der Genosse geht an die polnische Front. Er hat sich gemeldet, ein Freiwilliger. Es wird auch gekämmt, ausgekämmt. Aber dieser hat sich, wie viele andere, gemeldet.


Vorher hatte ich nichts vom Kriege mit Polen gehört. Man sprach nur wenig von diesem Kriege. Russland hat 6 Jahre Krieg, und so kriegsmüde Russland ist, der Krieg ist beinahe eine Selbstverständlichkeit. Er ist keine Anfangsentfachungssache mehr, keine Berauschung, sondern fast eine Selbstverständlichkeit. Er ist ein Druck, aber er drückt Russland nicht zu Boden.

Man spricht nur wenig vom Kriege mit Polen in Moskau. Die Leiter, die politischen Leiter, sprechen davon. Sie sind zuversichtlich, sie denken nicht an eine Niederlage.

Man versteht diese Zuversicht, wenn man Moskau, wenn man Russland einsaugt. Denn dieses Land profitiert gegen jeden Angreifer von seiner Weite und seinen Menschenmillionen. Ist der Krieg ein Volkskrieg, wie der Krieg gegen Polen, ein Nationalkrieg, so ist Russland unbesiegbar. Wer will diese Weite und diese Millionen mit dem Schwert besiegen? Napoleon vermochte es nicht. Russland ist ein einziger Kutusow.

Der Krieg drückt. Denn Krieg, das ist Requisition, das ist Leerfressen, das ist Verstopfen von Nährquellen. Jeder Krieg drückt, auch Russland drückt der Krieg. Wer in aller Welt hat noch das Recht, gegen Russland. Krieg zu führen? Es ist eine Biesterei.

Der Krieg drückt. Er belastet und lähmt die Transportstraßen, die Schienenwege und die Wasserstraßen. Er mordet. Er ist entsetzlich in jedem Falle.

Russland wird den Krieg mit Polen nicht verlieren. Im Herbst dieses Jahres spätestens wird Russland den Krieg gewinnen. Spätestens im Herbst wird die Besiegung der Polen entschieden sein. Russische Kriege sind Herbst- und Winterkriege.

Russland kann den Krieg mit Polen nicht verlieren. Denn die Polen kämpfen vor einer zermürbten Etappe. Der blutausgesogene Bauer, der anarchosozialistische Bauer der Ukraine, zermürbt die Etappe. Die Polen haben kein festes Glacis.

Es hat keinen Sinn, Russland anzugreifen. Aus vielen Gründen hat es keinen Sinn. England, die englische Regierung, begreift das schon. Es ist eine unerhörte Brutalität und eine unglaubliche Dummheit, gegen Russland Krieg zu führen. Russland ist ein riesenhafter Nahrungskessel, eine kolossale Befruchtungsmöglichkeit für die ganze Welt. Wer hat ein Interesse, diesen Kessel zu zerbeulen und diese Möglichkeiten zu vernichten? Nie zuvor hat Europa einen derartigen Irrsinn begangen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter