Der Boulevard

Gibt es noch eine terroristische Diktatur in Moskau? Nein, eine terroristische Diktatur gibt es in Moskau nicht. Gäbe es eine terroristische Diktatur in Moskau, so gäbe es keinen Maiboulevard mit einem lustigen Frühlingsleben wie im Mai 1920.

Eine grüne Erholungsstraße, von Plätzen und Kreuzungen unterbrochen, gürtelt der Moskauer Boulevard um die ganze Innenstadt. Einst war er gepflegter als heute, er war sozusagen rasiert und gepudert. Aber seine Bäume stehen noch, der braune Weg läuft noch um die Innenstadt, die Bänke sind geblieben, Konzertrondells und Erfrischungshäuschen. Die kleinen Seen blinken noch, und wenn, der Stromersparnis wegen, nur wenig Lichter glühen, so glüht doch das Leben auf dem Boulevard.


Rege wird es dort gegen zehn Uhr abends (Moskauer Zeit). Nicht rege wie vor der Revolution. Nicht so rauschend rege, glitzernd rege, blendend rege, nicht korsoartig, nicht mit beutesuchenden Kosakenoffizieren, mit Rollstuhl gefahrenen Glanzmüttern und beperlter Fäulnis wie vor der Revolution. Es gibt noch genug Bürgerlichkeit dort, noch genug Gemeinheit, noch genug Schieber, Spekulanten und sonstige Verschlichene. Aber wie die Moskauer Straße schon Arbeiterstraße ist, so ist der Moskauer Boulevard Erholungsweg des Proletariats. Oft sieht man gar kein Proletariat auf diesem Erholungsweg, und doch ist der Weg eine Promenade für das Proletariat. Denn jetzt duldet das Proletariat die Schieber, die Spekulanten und die Ohrgehänge. Früher duldeten die Ohrgehänge, die Schieber und Spekulanten das Proletariat.

Auf diesem Boulevard, diesem langen, sanftgewundenen Erholungsweg platzt keine Bombe, knallt kein Gewehr und blitzt kein diktatorischer Blick. Es ist sehr friedlich auf diesem Boulevard. Pärchen gehen, rote Soldaten wandeln, Menschen kommen von der Arbeit über diese Promenade. Es wird gescherzt, Probleme werden durchleuchtet, Hintenrumgeschäfte werden beflüstert und Frauen werden geliebt. Frei geht, sitzt und spaziert der Bürger Moskaus über den braungrünen Gürtel. Allein und gepaart, ernst und fröhlich, sorgenvoll und hochbrüstig.

Kein Radau. In keiner Stadt der Welt sah ich auf den Spazierwegen solch würdige Lustigkeit. In keiner Stadt der Welt (und ich sah viele Städte) sah ich die Frauen so sittsam (romantisch gesprochen). Es gibt keine Gewerbsdirnen mehr in Russland. Vor der Revolution gab es nach der Statistik (die allerdings in Russland besonders unzuverlässig war) auf den Straßen Moskaus 160.000 Gewerbsdirnen. Sie sind verschwunden. Fasst man noch eine, so wird sie in ein Arbeitsbataillon gesteckt. Die Beseitigung der Gewerbsdirnen, die sofortige Beseitigung, ihre Einfügung in die arbeitende Gesellschaft, ist eine selbstverständliche Forderung der Sozialisten. Sie ist eine Menschlichkeitsforderung, eine gegenkapitalistische Forderung, und auch eine Gesundheitsforderung. Die Geschlechtskrankheiten gehören (siehe Programm der Bolschewik!) zu den sozialen Krankheiten, ebenso wie die Tuberkulose und die Trunksucht. Das Programm der kommunistischen Partei Russlands, angenommen auf dem achten Parteikongress, fordert unter der Rubrik ,,Schutz der Volksgesundheit“ die Bekämpfung der sozialen Krankheiten (Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, Trunksucht usw.).

Die Liebe hat in Russland nicht aufgehört. Sie ist ewig wie die Dummheit. Aber die Kommunisierung der Weiber durch die Prostitution hat aufgehört. Damit hat die „käufliche Liebe“ noch nicht ihr Leben gelassen. So schnell geht das nicht. Immer noch wird in Russland, wird in Moskau Liebe gekauft und verkauft. Aber es ist ein Abbau aller käuflichen Liebe. Sie beginnt schon zu sterben und sie wird sterben. Man hat die Gewerbsdirnen beseitigt. Die verschlichenen Gewerbsdirnen, besonders die verheirateten Gewerbsdirnen, kann man in drei Jahren nicht beseitigen. Es ist noch schwere Not in Moskau, und schwere Not bricht den Stolz des Weibes. So gibt es immer noch eine soziale Liebesfäulnis. Frauen klagten mir in Moskau darüber. Sie lobten laut und innig die große Beseitigungstat der Sowjetregierung und sie wünschten eine schnelle Linderung der Lebensnot, damit die soziale Liebesfäulnis verschwände.

Gäbe es noch eine Kommunisierung der Weiber wie einst, so würde man sie auf dem Boulevard merken. Denn auf dem Theaterplatz und auf dem Boulevard Moskaus verkauften sich die kommunisierten Weiber. Das ist vorbei. Wenn man alle Taten der Sowjetregierung verurteilen und hassen will, diese Tat muss selbst der liberale Humanitätsdusler loben. Sie verdirbt ihm zwar das Geschäft, aber sie steht auf seinem Programm. Der Frauenhandel hat aufgehört, die Lustsklaverei stirbt ab, der Stolz des Weibes kommt auf. Ich sage nur, was ich sah. Nicht mehr und nicht weniger. Ich muss das wiederholen, sonst glaubt man, ich sei ein Tendenzhalunke.

Man wandelt also, spricht, lacht, glitzert, kokettiert auf dem Boulevard Moskaus und es fliegen keine Kugeln und Bomben, es greifen keine rauen Verhaftungshände in den Strom, es ist alles würdig und ruhig.

Die Erfrischungshäuschen mit den Gartenstühlen und Gartentischen davor stehen noch, und in ihnen gibt es auch noch Büfetts. Ich ließ mir von den Friedens- und Kriegsbüfetts erzählen. Es waren wundervolle Leckereibüfetts mit Moskauer Konfitüren, hundertfarbigen Schnäpsen und einem eleganten Gedränge davor. Das gibt es allerdings nicht mehr. Ganz Mutige, die den Kampf der Außerordentlichen Kommission gegen den Schleichhandel nicht fürchten, verkaufen Mokka und sanfte Cremetorten. Bei ihnen sitzen blitzende Bürgerreste, Frauen mit Perlengehängen, Fabelschuhwerk und Blitzringen an den manikürten Händen. Sie sitzen dort mit ihren Kavalieren (auch Kavaliere gibt es noch in Moskau) und schlürfen (elegante Damen trinken bekanntlich nicht wie Proletarier, sie schlürfen) Mokka und vielleicht auch Eis. Für einige tausend Rubel, aber es ist ja noch da. Nitschewo. Man verkauft einigen Krempel an einen Schieber, arbeitet nicht und schlürft.

Hier möchte ich eine Genussanweisung geben. Kommt einer meiner Leser im Sommer nach Moskau, hinein in den heißen Moskauer Sommer, den seefernen Sommer, den asphaltaufweichenden Sommer, den schweißtreibenden Sommer, so halte er für den Tag eine Thermosflasche mit kaltem Tee bei sich. Abends aber esse oder trinke er dicke Milch, eisgekühlte dicke Milch von den Büfetts der Boulevardhäuschen. Das ist köstlich, und der Preis ist nur 125 Rubel pro Glas. Aber er muss sich beeilen, er muss noch in diesem Sommer nach Moskau fahren, denn sonst wird der Preis viel höher, verdoppelt sich, verdreifacht sich. Das ist zwar völlig gleichgültig, aber es erschüttert die Quantitätsidioten.

Erst gegen 1 Uhr nachts (Moskauer Sommerzeit) ist der Boulevard entvölkert. Jeden Abend aber, wenn nicht das Wetter platzt, ist er ein fröhlich würdiges Gewimmel, mit Fäulnistupfen drin, mit vielen Angestochenen, doch eine Zukunftsstraße nach einer ehrlicheren Kultur.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter