Der 1. Mai

Kein Mensch in den Bureaus. Alles an der kommunistischen Samstagsarbeit, an der Maifeierarbeit. Wir warten drei Stunden am Nikolaibahnhof und betrachten die Mädchen, die an der Säuberung des Schienengeländes und an den Waggons lächelnd arbeiten.

Mädchen darunter in Samtkleidern, mit guttuchigen russischen Kopfbedeckungen, mit Handschuhen und mit gepflegten Nägeln. Sie reinigen den Bahnhof von Müll. Es ist keine liebliche Arbeit, aber sie amüsieren sich dabei. Ich beobachte eine Stunde lang fünf Mädels, wunderhübsche, knallbackige darunter. Sie schieben pustend einen müllgefüllten Waggon. Eine, mit roter Blume im schwarzen Haar und rotem Gürtel um die Samttaille. Eine andere fegt Treppe und Vorhof des Bahnhofs. Sie ist pelzumschlungen. Mir kamen allerlei Gedanken, beispielsweise Gedanken an den parfümverpesteten Kurfürstendamm in Berlin. An diese Sodomstraße, diesen Dreckasphalt, auf dem die Weibsen jede Lebensmöglichkeit versauen.


Die kommunistische Samstagsarbeit, die kommunistische Sonntagsarbeit ist mehr eine Erziehungsarbeit, eine Demonstrationsarbeit als eine Leistungsarbeit. Aber es ist doch eine Gemeinschaftsarbeit und keine Schweinigelei wie auf dem Kurfürstendamm in Berlin. Manchmal ist es auch Leistungsarbeit. Als ich dieselbe Strecke zurückfuhr, sah ich Hunderte von Eisenbahnwaggons mit Lobemblemen. Die Embleme lobten die kommunistische Arbeit, die am 1. Mai an den Waggons getan worden war.

Alle arbeiteten am 1. Mai in Moskau, alle, die nicht betonte Faultiere oder bewusste Saboteure waren. Unser Dolmetscher, der in die Stadt gegangen war, um Wohnungsanweiser zu suchen, erzählte uns, er habe Bucharin als Straßenkehrer gesehen. Lenin fegte am 1. Mai einen Kremlhof sauber. Das sind Demonstrationen, ich weiß es wohl. Aber es gab noch nie zuvor solche Demonstrationen. Es sind eben neue Demonstrationen. Keine der Parfümbesprengten, Verfaulten vom Kurfürstendamm in Berlin würde den Besen in die Hand nehmen oder Müll auch nur mit Handschuhen anfassen. Und es gibt doch so viel Dreck auf dem glatten, saubergefegten, besprengten Asphalt von Berlin.

Wir saßen ungeduldig lange Stunden auf den Stufen der Treppe zum Nikolaigüterschuppen. Eine Fabrikbelegschaft zog vorbei. Sie sang ,,die rote Fahne“, das Lied vom Revolutionssterben, vom Proletariertod, das Lied von der stolzen Opferung. Ich werde von diesem Liede noch erzählen. Jedes Kind in Moskau kennt und singt dieses Lied. Die Belegschaft marschierte mit dem Liede, das Lied marschierte mit den Menschen, die flatternde rote Fahne voran. Soldatenrhythmus, Marschgleichmäßigkeit. Links vorn am Trupp einer, der mit der Hand den Takt angab. Ernste Blicke.

Autos mit roten Sternen am Kühler, roten Fähnchen am Chauffeursitz fuhren vorbei, Meetings zu. Überall, auf Plätzen, den Riesenplätzen Moskaus, in Fabrikhöfen, in Hallen wurden an diesem Tage Meetings abgehalten.

Die Stadt war von Rot überflutet. Rote Fahnen, rote Bänder um weißbetuchte Arme, rote Bahnen an Mauern. Rot, rot, rot. Wir werden im rasenden Lastauto nach einem Sowjethaus transportiert. Kindertrupps ziehen singend vorbei, sonst aber ist die Stadt still. Denn alles ist bei der Feiertagsarbeit. Erst spät nachmittags beginnt das Fest.

Wir gehen nachmittags zum Deutschen Rat. Der Deutsche Rat ist die Zentrale für die deutschen Kriegsgefangenen, augenblicklich besonders für den Rücktransport dieser Gefangenen in die Heimat. Wir erhalten eine Einladung zur Maifeier des Deutschen Rates im Gebäude der Dritten Internationale.

Der Saal (in dem Graf Mirbach ermordet wurde) ist voll besetzt. Kriegsgefangene und deren aus Russland geholte Frauen, Gäste und Angestellte des Deutschen Rates warten auf die Vorführung und die Rede der Balabanowa, Sekretärin der Dritten Internationale.

Eine schwarz gekleidete kleine Frau von molliger Gestalt. Graue Fäden im Haar, Stock in der Hand. Sie beginnt sofort zu sprechen, noch atemlos von der schnellen Autofahrt. Leerer Innenblick, etwas flache Begeisterung. Kein Donnerkeil, keine Bombe, kein Florett. An dieser Frau ist alles Herz. Sie erklärt die Bedeutung der Feiertagsarbeit und singt ein Lied, ein hohes Lied auf die sozialistische Menschlichkeit. Sie vertritt in der Dritten Internationale die italienische Partei. Laut lobt sie die Hilfsbereitschaft der italienischen Genossen für Österreich. Die italienischen Genossen reißen die österreichischen Kinder, die verelendeten Kinder, die blutlosen Würmer, die hungergebrechlichen Kleinen, in die Zitronenwärme des Südens. Sie reißen sie hinein, so hilfsbereit sind sie.

Es folgen Tänze und bezügliche Aufführungen. Zwei ,,lebende Bilder“ stellen Proletarier unter Bourgeoisherrschaft und zum Kontrast dieselben Arbeiter als Befreite dar, während der Bourgeois in Ketten am Boden liegt.

Ich sah eine Tänzerin vom Großen Ballett, in Schuhen, aber mit nackten Beinen. Sie tanzte wundervoll, und es war doch kein Nackttanz wie in der Tauentzienstraße in Berlin. Es war ein Tanz mit nackten Beinen, aber kein Nackttanz.

Vom Proletkult merkte ich hier nur wenig. Die Kunst ist in Russland noch wesentlich Propagandamittel. Später werde ich davon erzählen.

Gegen zwei Uhr nachts, nach heftigen Gesprächen, sanken wir von Eindrucksmüdigkeit durchbleit ins Bett.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter