Das Sowjethotel

Hotels im europäischen Sinne gibt es weder in Petersburg noch in Moskau. Wohl gibt es Gepäckträger und Droschkenkutscher, aber kein Hotelwagen, kein Hausknecht mit Firmamütze wartet vor dem Bahnhof. Ist man von Reval aus angekündigt und hat man Glück dazu, so wartet ein Abholautomobil des Auswärtigen Amtes oder der Dritten Internationale. Ich war zwar angemeldet, aber ich hatte kein Glück. Denn es war der 1. Mai, und am 1. Mai kümmerte sich kein Mensch um uns. Es gab Wichtigeres zu tun.

Es gibt Sowjetgäste, die nach einem Programm behandelt werden, das heißt mit offiziellem Apparat. Die anderen wenden sich an das Auswärtige Amt, dessen Vertreter sehr liebenswürdig sind. Es ist allerdings eine Liebenswürdigkeit russischen Charakters. In Russland wird vieles versprochen und gewiss nicht alles gehalten. Das ist unter anderen ein Organisationsproblem von größter Bedeutung. Jedenfalls kann das Anpochen, Erinnern an das Zugesagte nichts schaden. Karachán wird nicht böse sein, sondern lächeln, wenn ich behaupte: trotz Anweisung eines Hotels durch das Auswärtige Amt ist schon mal einer in Moskau einen oder mehrere Tage ohne legale Unterkunft und Verpflegung gewesen.


Jedes Hotel bzw. Sowjethaus hat nämlich einen Kommandanten. Der Kommandant ist der Beherrscher des Hotels im Rahmen seiner Befugnisse. Er richtet sich nach den Weisungen des Auswärtigen Amtes oder der Dritten Internationale, die für ihre Gäste über ein sehr schönes Hotel verfügt. Solange der Kommandant nicht die Anweisung hat, den Ankömmling in dem betreffenden Hotel unterzubringen und zu verpflegen, tut er nichts, und es ist ihm völlig gleichgültig, wie der Gast sich behilft. Ist aber die Anweisung da, so braucht sich der Gast um nichts mehr zu kümmern. Er schläft, isst und trinkt im Sowjethaus. Seine Wäsche wird gesäubert. Dafür bezahlt der Gast entweder gar nichts oder eine Liliputsumme. Ich musste, aus Formalgründen, 200 Sowjetrubel pro Tag bezahlen. Das war zur Zeit meines Aufenthaltes in Moskau, in deutscher Reichsmark ausgedrückt, 2—3 Mark.

Aber auch die Anweisung genügt noch nicht. Jeder Fremde muss einen Pass, einen Própusk haben. Sonst kommt er gar nicht in das Hotel hinein. Der Pass wird vom Auswärtigen Amt ausgestellt und gilt für die ganze Stadt. Denn Russland führt Krieg, und es geht nicht an, daß ungestempelte Leute im Lande sind. Auch der Besucher eines Hotelgastes muss einen Pass vorweisen. Selbst Sowjethotels sind nicht völlig spionagesauber. Daher muss jeder Besucher, Einheimischer oder Fremder, sich ausweisen. Und zwar bei einer Wache, die bewaffnet ist und gewiss nicht zögern würde, einen ungestümen, nicht legitimierten Eindringling zu verhaften.

Die geräumigsten Sowjethäuser Moskaus sind das Metropol, National und Savoy. Sie heißen nicht Hotels, sondern Erstes Sowjethaus, Zweites Sowjethaus usw. Das Vestibül eines solchen Hauses ist noch das alte Hotelvestibül. Sonst jedoch hat es von einem Großstadtvestibül nichts mehr an sich und in sich. Die eleganten Hallensessel, auf denen rauschende Frauen, geschniegelte Offiziere, dicke Provinzkaufleute, Fabrikanten, Touristen usw. saßen, sind verschwunden. Die Spiegel sind blind oder halb erblindet. Ein großer Treppenspiegel im Metropol zeigt noch ein Kugelloch von den Kämpfen um die Macht. Der geschäftige Portier mit seinem Stab existiert nicht mehr, die Galanterie-, Schokoladen- und Zeitungsstände sind nur noch eine Erinnerung, und kein Großfürst mietet Zimmerfluchten. Es geht nüchtern und geschäftsmäßig her. Dafür wird man nicht geneppt, dafür fallen die Trinkgelder weg. Das Zimmer ist sauber, die Verpflegung ist knapp, aber gut (viel Káscha, wenig Kartoffeln und Fleisch, viel Tee, genügend Brot, etwas Butter).

Selbstverständlich sind die Zimmer der Sowjethäuser noch mit alten Herrlichkeiten ausgestattet. Allerdings verbleichen diese Herrlichkeiten, diese Empiresofas, Plüschstühle, Rokokotischchen, wie die Bourgeoisie verbleicht. Auffrischen konnte man noch nicht, es war auch nicht notwendig. Der Gast muss zufrieden sein. Er kann zufrieden sein. Die Kommandanten, die Zimmermädchen, die Tischbedienung (alles Beamte) sind freundlich und korrekt.

Einige Hotels haben fast auf jedem Zimmer Telephon. Die Zentrale verbindet schnell. Da jeder Gast wichtige Geschäfte hat, da kaum einer zu Bummelzwecken nach Moskau kommt, sind die Telephonmädchen an den Zentralen überbeschäftigt. Die Verbindung funktioniert nicht schlechter als etwa in Berlin.

Den Hauptverkehr hat das Metropol, in dem ein großer Teil der höheren Sowjetbeamten wohnt. Da das Auswärtige Amt in einem Anbau des Metropol untergebracht ist, wohnen die meisten Beamten des Auswärtigen Amtes in diesem Hause. Oft mit ihren Frauen und Kindern. Sie leben dort ihr ganzes Haushaltsleben. Das Metropol war vor der Revolution das vornehmste Hotel Moskaus. Hier feierten die Großfürsten. Es gibt noch einige Schlemmererinnerungen, Orgienreminiszenzen, die allerdings verwittert oder auf andere, bessere Zwecke eingestellt sind. In einem Vergnügungstempel beispielsweise sitzen, so wurde mir gesagt, Großspekulanten ihre Strafe ab.

Die rotbeschlagenen Separees des Metropol, die um den früheren Konzertsaal liegen, mit kleinen Balkonausbuchtungen und Türverschwiegenheiten, sind heute von Sowjetbeamten bewohnt. Der Konzertsaal ist der Sitzungssaal des Zentralexekutivkomitees der Räterepublik. Auf dem Konzertpodium stehen die Redner und sitzen die Versammlungsleiter. An Stelle eines Zigeunerprimas dirigiert jetzt Kalinin, Präsidial-Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees. Er dirigiert im Angesicht von Karl Marx, dessen klobige Büste in einer Nische des Saales aufgestellt ist. Man muss sagen: Verehrt wird Marx, wie er es verdient, aber porträtiert, plastiziert, monumentisiert wird er in Moskau hundsmiserabel.

Die Verpflegung in den Hotels ist zwar gleichmäßig rationiert, aber die Speisen sind nicht gleichmäßig zubereitet. Die Kochkunst spielt auch hier eine Rolle. Kommen Gäste, die gestreichelt werden sollen, die man realpolitisch behandeln will, Gäste, deren Eigenarten man berücksichtigen muss, so wird die Verpflegung erheblich besser. Da war beispielsweise der Fürst eines halbasiatischen Staates, der sich Sowjetrussland anschloss. Um ihn war in Moskau zwar kein Hotelprunk, aber doch Hotelbequemlichkeiten, die anderen Gästen nicht geboten werden. Es war schon etwas Betrieb dabei. Auch die englische Mission, die Mai 1920 in Moskau war, wurde sehr gut verpflegt und bedient. Mit Lachs, Schinken, vielem Fleisch, mit Prachtautos, Bärenführern und dergleichen. Wir konstatierten folgendes Gesetz: Gesinnungs- und Kampfgenossen werden ungefähr behandelt wie die Moskauer, wie eingesessene Russen. Leute, deren Gesinnung noch unzuverlässig ist, werden honigbehandelt. Käme beispielsweise Scheidemann nach Moskau, so würde er vielleicht empfangen wie jener halbasiatische Fürst. Allerdings würde ihm die Wahrheit nicht vorenthalten. Lenin hat den englischen Gewerkschaftsführern einiges gesagt, wovon sie gar nicht entzückt waren. Aber essen könnte Scheidemann in Moskau wie etwa bei Sklarz in Berlin. Also Philipp, mach dich auf nach Moskau und nimm auch Fritz mit, er wird nicht dünner werden.

Unser Delegationshäuptling war mit mir in einer Prachtvilla untergebracht. In einer Villa, die vor der Revolution Konsulatshaus war. Es gibt dort große Zimmer und Säle, weißgekachelte Baderäume, schauderhafte Gemälde, ein Billard, eine Terrasse und einen Fliederpark von unsagbarer Frühlingssüße. Hier war eine internationale Journalistengesellschaft: Chinesen, Japaner, Engländer, Amerikaner, Franzosen, Italiener. Außerdem Vertreter von Korea, Buchara (die beim Anblick von Schweinefleisch wegliefen), Tataren, ein ganzes Babel. Auch Miss Harrison war da. Ich muss das erzählen, da alle Welt sie kennt und sie alle Welt kennt. Sie sagte mir: Ich kenne sogar Theodor Wolff. Miss Harrison ist eine mutige Frau. Sie wandert für ihren Zeitungskonzern durch alle Reaktionen und Revolutionen und sie kennt sogar Theodor Wolff.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter