Das Große Theater

Als die englische Mission gekommen war, erhielt ich vom Bureau der Dritten Internationale eine Einladung ins Große Theater. Zu einer Opernvorstellung mit Ballett. Es wurde ,,Fürst Igor“ gegeben, eine Oper, deren Musik mir sehr gelobt wurde. Ich verstehe nichts von Opernmusik, behaupten meine Freunde. Denn ich hasse die Oper und ich sage das meinen Freunden ganz offen. Ich bestaune die Operngenießer, die zugleich hören und sehen können. Ich kann nur hören oder sehen. Es ist mir unmöglich, eine dramatische Handlung zu sehen und zugleich das Orchester zu hören. Über diesen Widerspruch komme ich nicht weg. Nur eine Oper reißt mich derart in die Musik, daß ich sogar die Handlung ertrage: Carmen. Lest Tolstois Kritik an Wagners Rheingold. Das ist ganz meine Kritik. Es ist für mich fauler Zauber.

Also: die Oper Fürst Igor war mir von vornherein völlig gleichgültig. Mich zog das Publikum ins Theater. Ein neues Publikum. Die sechs Riesenränge bis zum Olymp heftig von Proletariern durchsprenkelt. Im Parkett meistens Arbeiter, in den Logen viele Arbeiter. Rotsoldaten dazwischen. Sowjetsekretärinnen, Sowjetbeamte und Sowjetbeamtinnen. Der Theaterbesucher muss organisiert sein, sonst erhält er keine Karte. Karten werden beispielsweise von den Gewerkschaften ausgegeben. Allerdings sind noch nicht alle Theater in Moskau Staatstheater oder Volkstheater. Das Theater Korsch zum Beispiel, in dem ich ein schauderhaftes Sittenstück sah, ist noch eine Art Privattheater. Von Proletkultschwung merkt man in diesem Theater nichts. Auch im Großen Theater nicht, dessen Bühne durchaus mit alten Mitteln arbeitet. Auch hier ist noch kein Proletkult, obwohl die Besucher wesentlich Proletarier sind. Von neuer Kunst, von Kunst aus dem Volke, von sozialistischer Kunst ist hier noch nichts oder fast nichts zu sehen.


Aber das Publikum, das Publikum. Einmal sind es Proletarierkinder, Kindertausende, weiß gekleidete Kinder von unten bis oben, vom Parkettkindergewimmel bis zum weißen Kinderkranz auf dem Olymp, Kinderstaunen, Kinderflüstern, Kleinhändeklatschen. Hier wird eine neue Welt. Hier ist saugende Zukunft, hier ist Brand und Brennen, hier ist die ganze Hoffnung Russlands.

Dann wieder sind es Werksbelegschaften, Truppen, mit Einstigem durchsetzte Zuhörerschaften. Immer aber ist das Publikum von unten gebaut, es ist Proletarierunterbau, Arbeiterübergewicht, Arbeitermänner, Arbeiterfrauen.

Trotzki war von der polnischen Front nach Moskau gekommen, um die Engländer zu begrüßen, Paraden und Kriegsgeschäfte zu erledigen. Das Publikum beruhigte sich kaum. Es stand auf, es jauchzte in die Höhe, es war eine Händeraserei, als Trotzki in der großen Mittelloge erschien. Als er sich an die Brüstung setzte, rechts neben sich Frau Snowden, die kaltkluge, platt-pathetische Engländerin, und weiter rechts und links neben sich die Mitglieder der englischen Mission. Galant verbeugte sich Trotzki vor der Misses und erst halben Genossin. Galant, denn auch in Sowjetrussland gibt es so etwas. Fast eine Viertelstunde brauste das Volk nach der Loge, wo Trotzki saß.

Prunkvoll war die Aufführung. Das Stück eines bürgerlichen Künstlers war es, vor roten Draperien gespielt, vor roten Gemütern gespielt. Von Begeisterung genossen, beklatscht. Eine rührende Entflammtheit auch vor dieser Oper, die gar nicht flammend ist, die sehnsüchtig ist, melancholisch, liebesrührselig. Aber sie ist russisch, und der Künstler, der Sänger, der Schauspieler wird in Moskau noch immer geliebt. Er wird gerufen, er muss wiederholen, er strahlt, er braucht das. Es ist überall so, aber in Russland ist es doppelt so, ist es gesteigert so. Auch in Sowjetrussland. Ja, ich glaube in Sowjetrussland ist es noch gesteigerter als im Zarenrussland. Denn die Kunst findet Neuboden, findet zarteste Empfänglichkeit, hat unerhörte Befruchtungsaufgaben. Leider ist es noch alte Kunst, Repräsentationskunst, akademische Kunst, dumme Kunst und keine Kunst aus dem Volke.

Ich kam nicht des Fürsten Igor wegen. Ich kam des Publikums wegen und des Balletts wegen. Ich wollte, nach schwerer Wissenschaftsarbeit, russisches Ballett sehen: Nijinskis, Pawlowas, Schmetterlinge, Bachstelzen (nach Kerr), Junivögel (nach Kerr). Man machte eine wildprunkende Frauenszene, mit Tierfellen, reichen Stickkissen und mit unsagbar schönen Russengewändern. Mit Brokaten, halbasiatischen Pantöffelchen, Teppichphantasien, Zeltgeheimnissen. Es erschien Katherine Geltzer. 48 Jahre alt. 48 Jahre alt, aber ein festes Reh, springwütig, weißfleischig, unsagbar anmutig. Wundervolle Muskeln an Dianabeinen. Wenig Gewand. Sie erschien, und man beraste sie. Sie tanzte nur wenig. Sie machte Sätze wie ein Jagdhund, sie kauerte wie eine verschämte Bauerndirne, sie schritt wie eine Königin. Sie ist heißgeliebt in Moskau. Jeder Arbeiter kennt Katherine. Sie duftet, sie trägt Ringe, sie ist elegant wie einst. Sie ist die Ballerina auch im Proletarierlande. Glücklich tanzt sie, sie tanzt sich glücklich, der Jubel hebt sie wie ein Springtuch, sie ist ein Kobold, sie dreht die Fußspitze ins Herz, sie wirbelt Pirouetten in die Seele, sie ist eine große Künstlerin, mit 48 Reh, mit 48 Jahren. Mit Großmutterjahren noch ein Reh.

Es war eine entsetzliche Hitze im Theater. Aber alle hielten aus bis zum letzten Geigenzug. Dann aber kam das Wunderbare, das Überraschende, das gar nicht zum Stück Gehörende, das Proletarische. Denn dann sang nicht mehr die Bühne, nicht mehr das Orchester, dann sang das Volk. Es stand singend, es ging singend, es drängte singend durch die Ausgänge. Es marschierte singend auf den Treppen. Das Haus sang vom Dach bis zum Boden. Der Sang quoll, der Sang wuchs, der Sang drohte, schwur, pochte, der Proletariersang, der Menschheitssang. Der Sang aus unbeholfenen Worten, der sprachunschöne, aber kampfgewaltige, der primitive, sammelnde, frontschließende Sang:

Es rettet uns kein höhres Wesen,
Kein Gott, kein König, kein Tribun:
Uns von dem Elend zu erlösen
Können nur wir selber tun.

Völker, hört die Signale:
Auf zum letzten Gefecht,
Die Internationale
Erkämpft das Menschenrecht.


Durch die Ausgänge, auf den weiten Platz quoll dieser Gesang.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter
Moskau - Kaiserliches Opernhaus

Moskau - Kaiserliches Opernhaus

Moskau - Große Oper

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