Bettler

Man denkt: eine sozialistische Gesellschaft kennt keine Bettler. In Sowjetrussland, meint man daher, braucht und darf nicht gebettelt werden. Aber Sowjetrussland, das sowjetrussische Volk ist noch keine sozialistische Gesellschaft. Die kommunistische Partei Russlands hat das Eigentum an den Produktionsmitteln beseitigt und damit den Sozialismus vorbereitet. Doch von hier bis zum durchgeführten Sozialismus ist noch eine hübsche Strecke. Deshalb funktioniert auch die Sozialversicherung noch nicht, wie sie funktionieren soll, und selbst wenn sie funktionierte, wie sie funktionieren soll, würden doch noch Bettler in Moskau sein. Denn es wird nicht nur aus Not gebettelt, sondern auch aus Faulheit. Es gibt ja Bettlerfamilien, die den Beruf mit dem Bettelplatz vererben wie die Pariser Börsenmakler ihren Beruf und ihre Plätze vererben. Es gibt sehr wohlhabende Bettlerfamilien, es gibt Bettlerdynastien, Bettlerdurchlauchten, Bettlerherzöge, Bettlerkönige. Das ist oft ein sehr einträgliches Geschäft, und solange man die einträglichen Geschäfte nicht gänzlich erledigt hat, wird es auch noch Bettler geben. Sowjetrussland hatte vor der Oktoberrevolution kaum die Ansätze einer brauchbaren Sozialpolitik und bestaunte das deutsche offizielle Muster, das allerdings gar nicht bestaunenswürdig war. Es ist keine Kleinigkeit, in Russland brauchbare Sozialpolitik zu treiben. Im Programm der Kommunistenpartei Russlands heißt es: ,,Die Rätemacht hat auf dem Gebiete der Gesetzgebung für alle Werktätigen, die nicht fremde Arbeit ausbeuten, in allen Fällen des Verlustes der Arbeitsfähigkeit und der Arbeitslosigkeit völlige soziale Versorgung durchgeführt.“

Das stimmt, es stimmt grundsätzlich, und doch genügt die Versorgung noch nicht. Denn man kann einfach noch nicht so versorgen, wie man will. Man wird so versorgen, wie man grundsätzlich beschlossen hat, aber man kann es heute noch nicht. Und selbst wenn man es könnte, würden die Bettler doch noch nicht ausgestorben sein.


Die Bettler Moskaus sind nicht wie die Bettler anderer Städte. Jedenfalls nicht wie westeuropäische Bettler. Es sind Bettler mit mindestens halbasiatischer Geduld. Postenbettler, die sich nicht vom Fleck rühren, Pendelbettler, die von morgens bis abends einen kurzen Weg bependeln. Pagodenbettler, die vor jedem Vorübergehenden den Kopf senken, religiöse Bettler, die sich fortwährend bekreuzigen. Murmelbettler, die von morgens bis abends flüstern, als ob sie eine Riesensure beteten.

Du sitzt auf dem Theaterplatz in Moskau. Ein Bettler kommt vorbei, ein großer Mann. Etwas gebückt, langbärtig, graubärtig. Der Rock abgeschabt, zerschlissen, an den Beinen Filzstiefel oder an einem Bein einen Filzstiefel, am Fuße des anderen Beines einen durchlöcherten Schuh. Die rechte Hand fehlt. Der Armstumpf ist vom Ärmel verdeckt. Sobald er vor deiner Bank ist, streift er den Ärmel zurück und hält dir murmelnd den nackten Armstumpf vors Gesicht. Du gibst ihm einige Bolschewistenrubel. Er geht weiter, ohne Tempoänderung, von Bank zu Bank und zeigt überall murmelnd seinen Stumpf. Du denkst, nun ist er vorüber, für diesen Tag wenigstens endgültig vorüber. Aber du irrst dich. Eine Viertelstunde darauf kommt er zurück, macht dasselbe Bettelmanöver. Er schimpft nicht, er zeigt sich nicht ungeduldig, wenn du ihm nichts gibst. Er kehrt eben alle Viertelstunde wieder, und er weiß wohl, daß du ihm schließlich doch noch etwas gibst, oder er rechnet mit der Neubesetzung der Bank.

An der Ecke Hauptpost-Boulevardzugang steht eine Frau, das Gesicht auf die Brust gesenkt. Gegenüber eine Kirche mit Grünkuppel. Sie singt leise etwas, sie verbeugt sich ohne Unterlass, wie ein Automat. Du denkst, sie betet. Vielleicht betet sie auch zu Gott, daß er die Passanten freigiebig mache. Jedenfalls ist beten und betteln eins bei ihr. Sie steht viele Stunden lang, bewegt langsam das auf die Brust gesenkte Haupt und streckt mechanisch die Hand vor. Viele gehen vorüber, ohne etwas zu geben, aber von dem Riesenmenschenstrom zweigt mancher ab und gibt.

Vor der iberischen Madonna, die die Wache am Roten Platz nicht freigibt, stehen Frauen, die eintönig das Haupt bewegen. Frauen mit gehöhlter Hand, nicht ohne Inbrunst, bettelnde Frauen. Sind mehrere Rubelscheine beisammen, so verschwinden sie in der Rocktasche. Ein oder zwei Rubelscheine bleiben sozusagen als Lockspeise. Es sind Gemütsbeweger. Diese Rubelscheine sagen: Seht, es gibt noch gute Menschen, wollt ihr nicht auch gut zu uns sein? Mich haben diese Rubelscheine immer wieder gepackt, obwohl mein ständiger Begleiter abriet. Denn er war überzeugt, und der Überzeugte gibt in Moskau den Bettlern nichts. Der Bettel soll ausgerottet werden. Gibt man den Bettlern, so betteln sie weiter, arbeiten nicht, wenn sie noch arbeiten können und mühen sich nicht um den Genuss der Sozialversicherung, wenn sie arbeitsunfähig sind. Ich kannte die Theorie schon von der Universitätsbank her. Ich habe sie auch verfochten, verfechte sie noch heute, aber ich sündige gegen meine eigenen Grundsätze. Man soll nicht gegen seine Grundsätze sündigen. Wenn ihr nach Moskau kommt, so gebt den Bettlern nichts.

Es wird auch noch ,,vornehm“ gebettelt. Es wird noch sozusagen gesellschaftsfähig geschnorrt. Diese Bettelei ist widerwärtig. Es ist meistens keine Notbettelei, sondern eine Faulheitsbettelei. Die Unterstützung Arbeitswilliger, die die Not gepackt hat, ist keine Bettlerunterstützung, sondern eine Pflicht. Kann die Gesellschaft die Menschen noch nicht ernähren, kleiden und behausen, so müssen die Mitmenschen helfen. Denn die Gesellschaft, auch die sozialistische Anfangsgesellschaft, ist ein Biest. Aber der vornehme Bettel ist ein ekelhafter Faulheitsbettel, ein Gemüts-Spekulantenbettel, ein verlogener und unverschämter Bettel. Man soll ihn zum Teufel jagen, und wenn er mit Brillanten an den Fingern kommt. Denn dieser Bettel trägt oft Brillanten an den Fingern. Er kann es sich leisten.

Es gibt in Moskau auch Bettler aus Gesinnung, stolze Bettler, Leute, die alles verloren und eingebüßt haben, die nichts besitzen und sich doch nicht fügen wollen. Leute, die einst Großleute waren, Geltungsleute, Glanzleute. Nicht beflitterte Glanzleute, sondern Glanzleute aus Fleiß, Herkunft oder Kühnheit. Sie verkaufen das Letzte, verzichten auf eine Faulheitsrente, markieren nicht den willigen Beamten, sondern betteln.

Eines Abends sah ich vor einem guterhaltenen Boulevardhause einen hochgereckten alten Militär. Er sprach Männer und Frauen an und immer Männer und Frauen, die gut gekleidet waren. Ich erkundigte mich nach diesem Mann, und man sagte mir, es sei ein bettelnder Zarengeneral. Jeder der Angesprochenen gab ihm und sicher nicht wenig. Ich sah diesen Mann einige Wochen später auf dem Theaterplatz. Wieder sprach er Leute an, die gut gekleidet waren. Er sprach sie nicht mit Demut an, nicht bettelnd an. Er bat, wie man etwa einem Bekannten guten Tag sagt. Er nahm die Gabe wie ein Tribut, und immer erhielt er eine Gabe. Keiner kannte die näheren Umstände, aber ich dachte mir: dieser Mann bettelt zwar, es ist jedoch kein Faulheitsbetteln, kein vornehmes Betteln, sondern ein Betteln aus Gesinnung. Ein Betteln aus Stolz, ein Betteln aus Überzeugung. Viele Zarengeneräle haben sich der Sowjetregierung zur Verfügung gestellt. An der Spitze Brussilow, der eine Art Volksgeneral gewesen war. Sie haben sich, wie ich glaube, mit Überzeugung zur Verfügung gestellt. Wenn auch nicht mit kommunistischer Überzeugung, so doch mit Landesüberzeugung, weil sie meinen, daß die russischen Kommunisten das Land retten werden. Aber dieser General, der Bettelgeneral, hat sich nicht zur Verfügung gestellt. Er bettelt lieber.

Ich liebe die Leute nicht, die sich plötzlich ,,auf den Boden der Tatsachen stellen“ . Ich liebe die unehrlichen Leute nicht, die Hascher, die Leute mit der Drehbühne im Busen. Ich weiß auch, was man gegen den Bettelgeneral sagen könnte. Aber er hat mir imponiert.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter
Moskau - Bettler und Obdachlose wärmen sich am Feuer

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Moskau - Bettler vor der Kirche

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