Bei Bourgeois

Sie wohnen in einer Privatstraße Moskaus. In einem gutgebauten Haus mit einem Fahrstuhl im Treppenaufgang. Aber Fahrstühle funktionieren jetzt nicht in Moskau. Man muss Strom sparen, weil man wenig Brennmaterial hat.

Eine große Überlandzentrale bei Moskau arbeitet. Sie ist von deutschen Firmen gebaut (in Friedenszeiten). Von Siemens, der A. E. G., der Porzellanfabrik Rosenthal. Von hier aus spannt sich ein großartiges Netz über das Moskauer Gebiet. Die Zentrale arbeitet, arbeitet exakt, aber sie versorgt noch nicht alles, was sie versorgen möchte, weil man Strom sparen muss.


Auch die Fahrstühle in den Ämtern gehen nicht. Bis zum letzten Stockwerk im Gebäude des Obersten Wirtschaftsrates braucht man mindestens ein Paar Schuhsohlen, denn der Fahrstuhl geht nicht. Man kommt dort mit völlig ausgepfiffenen Lungen an. Es hilft nichts, der Fahrstuhl geht nicht. Rationierung, segensreiche.

Man sagt in Moskau nicht Bourgeois, sondern Burjui oder Burjoi. Es ist eine Tendenzverballhornung, eine Verachtungsvokalisierung. Es gibt noch mehr Tendenzverballhornungen, Tendenzkürzungen, Tendenzbiegungen. Beispielsweise Spezi für Spezialist. Spezi, das ist in Moskau nicht nur der Fachmann, sondern der renitente Fachmann, der sabotierende Fachmann, der faule Fachmann.

Burjois hausen in keiner Kloake. Sie sind nicht luftabgeschnürt, zwangsbeschnitten. Ich sah in der Wohnung Tische, Stühle, Ölbilder, ,,echte“ Bilder. Ich saß auf einem Sofa, das mit Ripstuch überspannt war und wurde zum Braten eingeladen.

Frau Burjoi stak in einer Matinee. Vielleicht in einem Kimono. Ich kenne das nicht so genau. Ich weiß noch nicht einmal, ob Pyjama männlich oder neutral ist. Aber es war ein gutes Bekleidungsstück, wellig bis an die hellen Hausschuhe reichend. Um die Füße waren Florstrümpfe. Ich wurde zum Braten eingeladen.

Im dritten Zimmer stand ein Kinderwagen, ein bürgerlicher Kinderwagen, mit einer treuen Seele daneben. Es war eine Amme. Eine wirkliche Amme, kein Ammenphantom, keine viertdimensionale Ammenerscheinung, sondern eine Amme aus Bein und Brust. Eine Amme, wie der Säugling sie braucht. Also eine gewölbte Amme, keine Flachamme. Es war eine wirkliche Amme.

Der prachtvolle Landa war mit mir bei Burjois. Er ist ein Kommunist und steckt in einem Lederanzug. Die Zehen des rechten Fußes steckten allerdings gar nicht mehr. Oder sie steckten draußen, wenn ich so sagen darf, von Luft umhüllt. Es war warme Moskauer Sommerluft, völlig unschädlich für die Zehen. Sie säuberte die Zehen zwar nicht. Das kann man nicht sagen, aber sie war warm.

Außerdem trug der prachtvolle Landa einen Everclean. Everclean ist eine ideale Sache. Everclean ist durchaus waschecht. Man braucht nur einen Everclean. Mehr braucht man nicht. Der prachtvolle Landa wusch ihn jeden Morgen mit Teewasser. Dann blitzte er, dann jauchzte er weiß in der warmen Sonne Moskaus.

Diesem Everclean Landas gegenüber kokettierte ein Spitzenüberhang und eine rechte Hand mit Brillantringen. Daneben stand eine junge Dame. Eine junge Dame und kein Mädel. Mit Florstrümpfen, mit einer breitgestreiften Seidenbahn um sich, mit weichen Augen und mit bitteren Klagen.

Denn es begann ein Systemgespräch, eine Problemdiskussion. Burjois waren unzufrieden mit dem Regime.

Das kann ihnen kein Mensch verübeln. Denn dieses Regime ist wahrhaftig noch keine Paradiesgartenverwaltung. Es ist die Verwaltung eines Ackers, eines groben Landstückes mit noch vielem Unkraut, schlecht gejätet, sogar noch schlecht gepflügt. Es ist kein Herzvergnügen, kein Burjoisvergnügen, auf diesem Acker zu wandeln. Florstrümpfe oder florstrumpfige Seelen fühlen sich nicht wohl auf diesem Acker. Es ist nichts für florstrumpfige Seelen.

Die Dame mit der florstrumpfigen Seele war eine Sowjetbeamtin. Die Kimonodame arbeitete gar nicht. Ich möchte, sagte sie herzinnig, dem Volke dienen. Aber ich kann dem Volke nicht dienen, ich habe nichts gelernt. Revolutionen dürften erst kommen, wenn alle volksdienstvorbereitet sind.

Was soll ich tun? fragte sie. Ich muss Sachen verkaufen, denn unter l00.000 Rubeln monatlich geht es nicht. Zu wenig Brot, kein Zubrot. Was soll man tun? Man verkauft ein Stück nach dem andern. Leider, sagte sie, leider kann ich nicht dem Volke dienen.

Sie schwärmten von Lenin, aber sie jammerten über andere. Es gibt noch vieles zu bejammern in Moskau. Die Sowjettätigen sind bei Gott nicht alle Uneigennützigkeitsfanatiker. Auch von ihnen dienen viele nicht dem Volke.

Die Kleine mit der florstrumpfigen Seele und der Seidenbahn um sich klagte mit. Sie diente zwar dem Volke nach ihrer Art, aber sie verdiente damit nicht genug. Die Sowjetbeamten und Sowjetbeamtinnen verdienen (mit Ausnahmen) tatsächlich nicht genug. Weder an Geld noch an Naturalien. Das Moskauer Beamtenessen (meistens in den Amtsgebäuden verabreicht) ist kein Luxusessen. Es reicht nicht. Auch die Brotzuweisung genügt nicht. Es ist hier mindestens ein Entlöhnungsfehler. Die Geldentwertung galoppiert so schnell, daß die Löhne und Gehälter nicht mitkommen (Reallohn).

Aber die Kleine mit der florstrumpfigen Seele sah gar nicht verhungert aus. Sie war kein Skelett, sondern eine Molligkeit. Sie war prick, sauber, sie hatte Glanznägel. Sie lebte also und lebte gut. Jeder jammert in Moskau, aber jeder lebt, und Hunderttausende leben gar nicht schlecht.

Kein Bourgeois kann sich mit dem System befreunden, herzinnig befreunden. Der Moskauer Bourgeois war in Friedenszeiten ein Bettgenießer, ein Tischgenießer, ein Trunkgenießer. Er kann sich jetzt mit der Enthaltsamkeit nicht befreunden. Das ist selbstverständlich.

Aber er lebt, auch wenn er dem Volke nicht dienen kann. Er lebt so lange ohne Dienst am Volke, bis er alles, was ihm die Dienstlosigkeit ermöglicht, verlebt hat. Dann allerdings muss er dem Volke dienen.

Brotklagen, Fleischklagen, Essensklagen, Kleidungsklagen, Geldklagen. Man hört sie immer wieder. Es sind Situationsklagen, Gegenwartszustandsklagen. Perspektiven gibt es nicht, sondern nur Retroperspektiven. Das ist begreiflich, es wird auch anderswo so sein oder werden.

Bourgeois sind keine Sozialisten, Kommunisten sind sie gewiss nicht. Sie verloren, während der Sozialismus gewann. Daher sind sie berechtigt zu schimpfen, denn sie wissen nicht, daß der Sozialismus auch für sie gewinnt.

Ich wies auf den Kinderwagen, auf den Säugling an der gewölbten Amme. Ich meinte: dieser Säugling wird einst dem Volke dienen und er wird dann nicht mehr klagen. Es wird kein klagender Zustandsmensch sein, kein klagender Gegenwartszustandsmensch, vielleicht auch kein Perspektivmensch, vielleicht schon ein Mensch, der mit der Gegenwart zufrieden ist. Sicher kein Retrospektivmensch. Die Vergangenheit wird schon ein Museum für ihn sein.

Vielleicht, sagte der Kimono. Vielleicht, sagte die florstrumpfige Seele. Aber was haben wir davon? Davon haben wir nichts. Wir sind Gegenwartszustandsmenschen, und der gegenwärtige Zustand ist kein schöner Zustand, es ist ein Zustand, Zustand . . .

Wir nahmen die Einladung zum Braten nicht an. Nicht aus Abneigung gegen Braten. Ich sehnte mich nach Braten in Moskau, ich schimpfte auf die bratengesegnete englische Mission. Als ich, auf der Rückfahrt, in Narwa war, verdarb ich mir sofort den Magen an gehäuften Schweinskoteletten. So sehr sehnte ich mich nach Bratfleisch.

Aber jener Braten wäre grundsatzumtochten gewesen, ein prinzipienumkämpfter Braten. So ging ich nach Hause, an den Tisch mit Kascha, aufgetragen von Sascha, der Sowjethausköchin mit den dicken Backen, dem Zahngeschwür und der Dienstbereitschaft am Volke.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter