Morphium- und Kokainsucht.

Der beste Schutz gegen die Sucht besteht darin, daß man den Anfängen widerstehe.
Autor: Otto, H. Dr., Erscheinungsjahr: 1891
Themenbereiche
Morphium, Kokain, Rauschgiftsucht, Drogenabhängigkeit, Entzug, Sucht, Entziehungskur
„Es ist im Leben hässlich eingerichtet, dass bei den Rosen gleich die Dornen stehen“, möchte man mit dem Dichter ausrufen, wenn man immer und immer wieder die Beweise vor sich sieht, dass ein so recht zum Wohl der leidenden Menschheit bestimmtes und für viele Schmerzen und Krankheiten geradezu unentbehrliches Mittel durch ungeeigneten Gebrauch zum Fluche für den Einzelnen, für seine eigene Gesundheit und für das Glück seiner Familie, werden kann. Wenige Giftstoffe, wenn man voll dem bösen Feinde so vieler Tausende, dem gepriesenen Sorgenbrecher Alkohol, ab sieht, haben in der Welt so viel Unheil gestiftet wie das Opium und das daraus bereitete Morphium, und während überall die Warnungen vor diesen heimtückischen Giften in der Öffentlichkeit erschallen, hat sich ihnen ein neues, das Heroin, zugesellt, das unter dem Vorgeben, ein Heilmittel zu sein, fast noch verderblichere Wirkungen auf Geist und Körper ausübt.

Unheimliche Gäste sind es, die oft den Menschen nach kurzer Bekanntschaft so ganz sich zueigen machen, dass all sein Deuten ihnen untertan wird, und dass keine Warnung, keine Mahnung der Pflicht und der Ehre, kein Aufblitzen der Vernunft ihren Einfluss brechen kann. Ihre Macht ist umso größer, weil sie nicht wie bei anderen Genussmitteln aus den durch sie verschafften Annehmlichkeiten beruht, sondern aus den unerträglichen Qualen, welche die Unterbrechung der Gewöhnung nach sich zieht. Die Ärzte der zahlreichen Anstalten, die sich mit der Kur von Morphiumsüchtigen befassen, wissen schreckliche Dinge davon zu berichten, wie weit sich hochachtbare Männer und Frauen vergessen, wenn die Schrecken der Entziehung sie packen und keinen anderen Gedanken in ihnen aufkommen lassen als den, um jeden Preis wenigstens noch einmal das gewohnte Mittel zu erlangen. Nicht wenig zahlreich sind die Fälle, in denen der Morphinist zum Verbrechen, zum Diebstahl, zur Fälschung von Unterschriften schritt, um sich Morphium zu verschaffen. Wir kannten die Frau eines angesehenen Arztes, die unter dem Einfluss einer bloßen leichtsinnigen Neugier die Wirkung des ihr zugänglichen Stoffes erprobt hatte und bald ganz unter seine Herrschaft gekrochen war. Ihr Gemahl, den seine Berufsgeschäfte sehr in Anspruch nahmen, bemerkte erst nach einigen Wochen das Unheil und hielt es für das Beste, seine Frau an einem fremden Orte der Behandlung eines Kollegen zu übergeben, der ihr allmählich geringere Mengen verabfolgen sollte. Der Erfolg war anscheinend vorzüglich - nach einigen Wochen verzichtete die Dame auf jede Verordnung. Nach weiteren Wochen stellte sich heraus, dass sie einem anderen Arzte desselben Ortes einen gefälschten Brief ihres Mannes übergeben hatte, worin dieser den Wunsch aussprach, der Kollege möge der von schweren Nervenschmerzen gepeinigten Kranken Morphium in nötigenfalls steigenden Gaben verschreiben. Als der Betrug an den Tag kam, waren die Folgen bereits derartig, dass nur mit großen Mühen und Kosten und nach langer Zeitdauer eine schwache Besserung zu erzielen war. Dabei handelte es sich um eine Frau, die in jeder anderen Beziehung das größte Vertrauen mit Recht genoss und der jede, auch die leiseste Unrechtlichkeit auf anderen Gebieten des Lebens vollkommen fern lag.

Einen anderen Fall, wo der Morphinismus zum Verbrechen trieb, erzählt Dr. Albrecht Erlenmeyer in seinem Buche „Die Morphiumsucht und ihre Behandlung“. Die Tochter eines verstorbenen Strafanstaltsdirektors hatte sich von einem Arzte wiederholt Morphium zu Einspritzungen verschreiben lassen. Als sie eines Tages ein Rezept erhielt, auf dem 1,2 Gramm Morphium in Lösung verschrieben waren, änderte sie diese Zahl in 6,2 um. Die Veränderung wurde erkannt, als Urkundenfälschung erachtet und die Fälscherin zu einer zehntägigen Gefängnisstrafe verurteilt. Trotz des Zwanges, unter dem Morphiumsüchtige in solchen Zuständen handeln, genügt der Nachweis des bestehenden Morphinismus allein nicht, um den Ausschluss der freien Willensbestimmung zu beweisen, bei dem das Strafgesetz das Nichtvorhandensein einer strafbaren Handlung ausspricht.

In den meisten Fällen wird der Anlass zum Gebrauch der Morphiumspritze durch schmerzhafte Krankheiten oder durch nervöse Leiden von unbestimmtem, peinigendem Charakter gegeben. Der englische Schriftsteller Thomas de Quincey, der Verfasser der „Bekenntnisse eines Opiumessers“, berichtet, dass ein höchst schmerzhaftes Magenübel, die Folge früherer Entbehrungen, ihn zur Anwendung des Opiums gebracht habe, während zwei Leidensgenossen ihre Gewohnheit auf ein Gefühl zurückführten, „wie wenn Ratten ihre Magenwände zernagten“; nicht selten handelt es sich, namentlich bei Ärzten, denen ja ihr Beruf die gefährliche Waffe in die Hand gibt, um den Wunsch, die aus Überarbeitung hervorgehende Abspannung und Schlaflosigkeit zu bekämpfen. Es scheint, als ob gerade solche Menschen, bei denen eine angeborene geringere Widerstandsfähigkeit des Nervensystems eine Neigung zu nervösen Zuständen und Krankheiten schuf, zur Gewöhnung an das Morphium besonders veranlagt wären. Viele Menschen können wochenlang Morphiumeinspritzungen erhalten, ohne beim Abschluss der Behandlung irgendwie das Bedürfnis zur Fortsetzung zu empfinden, während andere nach wenigen Anwendungen dem traurigen Banne des Giftes verfallen sind, und diese Verschiedenheit erklärt sich nach manchen Beobachtungen vorzugsweise durch ererbte nervöse Anlagen. Ähnliches beobachtet man ja nicht selten beim Alkohol. Ist dann noch, wie so häufig in diesen Fällen, eine gewisse Charakterschwäche vorhanden, so schreitet das Übel besonders reißend fort und zieht wohl auch teure Angehörige des Opfers mit ins Verderben.

Ein uns bekannter junger Arzt, den Nervenschmerzen an den Gebrauch der Morphiumspritze gewöhnt hatten, konnte dem Triebe nicht widerstehen, auch seine Braut mit den Geheimnissen dessen, was ihm bald als sein Lebenselixier erschien, vertraut zu machen, obwohl er aus seinem Beruf die ganze Summe der damit verbundenen Gefahren kennen musste. Als das Band der Ehe zwischen ihnen gefügt ward, waren sie beide mit Leib und Seele dem Morphium verfallen, und als nun das Leben erhöhte Anforderungen an sie stellte, konnte es ihnen nicht lange verborgen bleiben, dass es so nicht weitergehen könne. Es war gerade zu der Zeit, wo das Kokain als Hilfsmittel bei der Morphiumentziehungskur angepriesen wurde, weil es den Anschein hatte, als könne man damit die Qualen der Entbehrungszeit unterdrücken. Der angestellte Versuch gelang ? das Morphium war entbehrlich geworden ? aber binnen kurzem traten die noch weit schlimmeren Anzeichen der chronischen Kokainvergiftung hervor, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den Erscheinungen des Säuferwahnsinns haben. Halluzinationen in verschiedenen Sinnesgebieten, das täuschende Gefühl, als ob Tausende von kleinen Tieren auf der Haut umherwimmelten, die Wahrnehmung entsetzenerregender Gestalten, scheinbare Verkleinerung und unablässige Hin- und Herbewegungen der Gegenstände der Umgebung, die wahnhafte Ausdeutung aller dieser Eindrücke durch das umdämmerte Bewusstsein schufen einen ebenso quälenden als gefahrvollen Zustand, so dass die Überführung des unglücklichen Paares in eine Heilanstalt erforderlich wurde. Zwar war das Ergebnis der langwierigen Behandlung dank dem strengen Bann der Anstalt ein günstiges; aber wird es so bleiben? In jedem Falle besteht die Gefahr, dass die beschränkteste, vielleicht durch ein vorübergehendes Übelbefinden veranlasste Wiederbenutzung des Mittels das ganze Unheil wieder wachrufe. Wie schwer es ist, gegen dieselbe anzukämpfen, zeigt zur Genüge die große Zahl der bedeutenden Männer, die ihr Leben lang Sklaven des Morphinismus waren und die ihm schließlich zum Opfer fielen. De Quincey nennt von hervorragenden Engländern als Beispiele Wilberforce, Milner, Coleridge und andere; von Deutschen könnte leicht eine Reihe von glänzenden Namen hinzugefügt werden, darunter mehrere der hervorragendsten Ärzte. Dass sie trotz ihres Übels jahre- und jahrzehntelang ihrem Ruhmeskranze noch neue Blätter hinzugefügt haben, will nichts gegenüber ihrem eigenen Elend bedeuten, von dem die ihnen Nahestehenden die traurigsten Bilder gewonnen haben.

Unter zahlreichen erschütternden Krankengeschichten teilt das erwähnte Erlenmeyer’sche Buch auch die folgenden mit, denen wir einige Hauptzüge entnehmen. Ein adliger Gutsbesitzer, der durch Gallensteinkoliken zum Morphiumgebrauch gekommen war, hatte sich mehrmals durch Entziehungskuren des Mittels entwöhnt, war aber immer wieder rückfällig geworden. Auf ärztlichen Rat beginnt er schließlich, neben dem Morphium, Kokain einzuspritzen. Anfangs empfindet er danach einen sehr angenehmen Sinnenrausch und ein behagliches Wärmegefühl, bald aber sieht er sich genötigt, die Morphiummenge zu steigern, da die Wirkung nachlässt. Der früher willensstarke Mann, an dessen Geistesfrische und Tatkraft die bisherige geringe Morphiumgabe ebenso wenig genagt hatte wie an seiner körperlichen Rüstigkeit und seinem gemütvollen Humor, gerät schnell in leiblichen Verfall, sieht elend und verändert aus, verliert seine Energie, wird gleichgültig gegen die Seinigen und gegen seine bisherigen Interessen; sein Gang wird schleppend, seine Sprache schwach, sein Gedächtnis nimmt ab. Im Gegensatz zu früher widersetzt er sich dem Vorschlag der Entziehungskur; als er in eine Privatklinik kommt, verschafft er sich hinter dem Rücken des Arztes zweimal seine alte Morphium-Kokainlösung; in der Erlenmeyer’schen Anstalt verschweigt er diese Tatsache, gibt sein Ehrenwort, weder Spritze noch Morphium noch Kokain bei sich zu haben, wird aber nach wenigen Tagen überrascht, als er sich aus einer Eau de Cologne-Flasche, die er mit Morphiumlösung gefüllt, aber mit jenem Parfüm zur Herstellung des Geruchs bestrichen hat, eine Einspritzung macht; nach weiteren fünf Tagen verlässt er die Anstalt, weil ihm die Gifte vorenthalten werden.

In einem anderen Falle handelte es sich um eine zweiunddreißigjährige Offiziersgattin, die durch ein schmerzhaftes Leiden Morphinistin und nach einer Entziehungskur Kokainistin geworden war. Sie bricht das ihrem Gemahl gegebene Versprechen, dass sie die Einspritzungen unterlassen wolle, wird energielos, gleichgültig, menschenscheu und misstrauisch, hört eingebildetes Trommelwirbeln und Trompetenblasen, meint, dass ihr im Manöver befindlicher Mann ein Duell mit ihrem früheren Arzte habe, glaubt beide getötet, legt Trauerkleidung an, verschließt vor dem zurückgekehrten Gatten die Tür, veranlasst ihre Kinder, gegen den Vater mit ihr in Bund zu treten, spritzt auch ihnen Kokain ein und bemerk danach bei ihnen wie bei sich selbst bedeutungsvolle Buchstaben auf dem Arm, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind. Das gewaltsame Öffnen der Tür verhindert sie durch die Drohung, sich dann sofort aus dem Fenster zu stürzen. Erst nach langen Bemühungen gelingt es, durch List bei ihr einzudringen; sie ist vollkommen geistesgestört und wird auch durch eine längere Anstaltskur nicht ganz wiederhergestellt.

Der beste Schutz gegen die Morphium- und Kokainsucht besteht darin, dass man den Anfängen widerstehe. Gewissenhafte Ärzte, an denen Deutschland so reich ist, werden nur unter sorgfältiger Erwägung der Gefahren das für viele Kranke unentbehrliche Gift in Anwendung bringen, und die staatliche Überwachung des Verkaufes wird dem Missbrauch mehr und mehr die Möglichkeit entziehen. Möge auch die Kenntnis der Gefahr recht viele vor dem Übel bewahren! Möge immer und immer wieder vor dieser Gefahr gewarnt werden.