Wien und die Wiener

Wien ist eine über die Maßen schöne Stadt und seine Einwohner sind die liebenswürdigsten Menschen. Das stimmt freilich nicht überein mit den Urteilen so mancher schriftelenden Herren, welche den Wienern die Gastfreundschaft, mit der sie von ihnen überschüttet wurden, damit vergalten, daß sie hinterdrein über sie schimpften. Hätten sie nur das getan; gewissen Leuten ist das Schimpfen ebensowohl wie Andern das Beten angeboren — daß sie aber verleumdet haben, daß sie die guten, ehrlichen Wiener für das viele Liebe und Gute, was sie bei ihnen genossen — später im Berliner Tiergarten oder auf der Brühlschen Terrasse oder aber im Kursaale zu Wiesbaden — verleumdet und ihnen allerhand aufgebürdet haben, von dem sie doch selbst überzeugt sein mussten, daß kein wahres Wort d’ran sei — oder wenn sie das nicht waren, so mangelte es ihnen völlig an aller Erkenntnis — das, das war abscheulich und albern zugleich.

Wie heißt gleich das erste Verbrechen, was diese Leute dem Wiener vorwerfen?


Ja richtig: ,,Es sind sinnliche, materialistische Menschen — Epikuräer!“

Du lieber Gott! Es ist einiges Wahre an dieser Sache. Aber warum sollen die Wiener nicht sinnlich, nicht epikuräisch sein? Ich sehe keinen Grund dagegen. Würden’s die Herren im Norden nicht eben so machen — wenn sie’s nur könnten? Die Wiener sind sinnlich; gut. Aber wozu hat ihnen der Schöpfer eine so reiche Natur und einen so üppigen Boden gegeben? Etwa, daß sie das Alles nur ansehen, die Augen niederschlagen, auf die Brust klopfen und daneben andächtig verhungern? —

In Berlin und anderswo im Norden hält man täglich sechs Mahlzeiten. Früh Morgens gießt man eine Sündflut solchen Kaffee’s, wie ihn in Wien nicht einmal die „Haderlumpen“ trinken, in den Magen; um 10 Uhr folgt sodann Butterbrot oder Wurst — um 12 Uhr Suppe (doch beileibe keine Fleischbrühe, denn die wird hier als Rarität separat genossen —), Gemüse.— selten Fleisch — dafür aber immer Butterbrot, welches im Verein mit dummen Käse das Dessert bildet. Um 2 Uhr kehrt die Kaffeesündflut wieder; um 4 Uhr Butterbrot; Abends Butterbrot und, wenn’s gut geht, Wassersuppe und etwas Gemüse; — der Herr der Schöpfung (Mann) legt sich noch allenfalls ein Glas Bier oder Wein zu.

Ich habe hier keineswegs von armen Leuten gesprochen; ich habe die Speisekarte des bessern Bürgerstandes mitgeteilt und dabei eher noch mit etwas glänzenderen Farben, als grau gemalt. Und jetzt sagt mir: Wo wohnt die Sinnlichkeit, der Sensualismus, die Unersättlichkeit? Bei dem Wiener, der blos drei Mal des Tages — oder an der Spree, Oder und Elbe, wo man sechs Mal binnen 24 Stunden ißt?

Ferner sollt Ihr absonderlich unwissend, ungebildet, ja sogar unaussprechlich dumm sein, Ihr meine teueren Landsleute. Man spricht hier im deutschen Norden von Euch, wie die Griechen von Böotien sprachen. — Hingegen gibt es hier eben so viel Athene und Griechenländer, als Städte und Ländchen. Da habt Ihr ein Pleiß-Athen (Leipzig), da ist ein Elb-Athen oder Florenz (Dresden), da ist ferner das eigentliche deutsche Athen: Weimar (wiewohl dort die Götter längst ausgewandert sind) — sodann das Neu-Athen (München), und nun erst, was die Hauptsache ist: das ganze große, vollständige deutsche Hellas und Rom in Bausch und Bogen findet Ihr in Preußen mit Berlin, Breslau, Halle, Königsberg und Steglitz — wovon Berlin Rom, Breslau Athen, Halle Korinth und Steglitz Sparta vorstellt.

So gut haben wir's freilich nicht, so gut hat es nicht einmal Griechenland (das alte) gehabt, denn dieses war blos einfach; während dasselbe hier bei uns in sechs bis sieben Auflagen zu haben ist.

,,O du meine Güte!“ redete mich einmal die dicke Kriminalrats-Direktorin M., als ich sie besuchte (sie wohnte unter den Linden in Berlin) an: ,,ist es denn wahr, Herr Doktor,“ (in Norddeutschland wird jeder Literat Doktor genannt, gerade so wie in Wien Jedermann ,,Herr von“) — ,,ist es denn wahr,“ meinte die Dicke, ,,daß die Leute in Wien jar so sehr unjebildet sind, wie man sagt? Und daß sie auch jar nichts verstehen?“

Ich antwortete, indem ich dabei die Hand auf die Brust legte, blos mit einem tiefen Seufzer.

Dies hielt die dicke Berlinerin für eine Bejahung und sie wurde sichtbarlich betrübt: ,,Ach,“ fuhr sie fort, ,,das ist ja aber auch erschrecklich schlimm!“

Ich seufzte abermals.

,,Aber wie halten sie es denn nur dort aus? Reden sie denn jar nich?“

Hier fragte ich: ,,Wer? — Ich oder die Wiener?“

,,Die Wiener! Die Wiener!“

Ich seufzte wiederholt.

,,Sie reden also janz und jar nich?“

,,O doch, Madame; sie reden sehr viel.“

,,Aber wovon denn? juter Doktor.“
,,Von ihren Geschäften, von ihren Arbeiten, von ihren Unterhaltungen und von ihrer Familie, gute Madame.“

,,Und die Damen auch? Herr Doktor?''

,,Die Damen auch, Madame.“

„Aber das muss man ja dort nicht auszuhalten sein!“

Ich seufzte wieder.

„Aber Sie seufzen ja stets, Doktor.“

Ich seufzte mächtig.

,,Was meinen Sie damit?“

Ich seufzte ungeheuer.

,,Aber — “

Ich seufzte fürchterlich.

,,Sie seufzen man und weiter nichts, während ich von Politik, Kultur und großen Dingen rede...“

Jetzt wies ich mit dem Finger auf Wilhelm, das kleine Söhnlein der dicken Dame, welches vor einer Viertelstunde seine Beinkleider hinten gar jämmerlich zerrissen hatte, und seit dieser Zeit immer im Winkel stand und immer weinte und seine zerrissenen Beinkleidchen immer mit der Hand zusammenhielt: — „Flicken Sie Ihrem Kinde lieber die Hosen oder lassen Sie sie flicken, das wird viel besser sein, als daß Sie Elegien singen über das ungebildete Österreich!“ wollt’ ich sagen — schwieg aber still.

Das war die Ursache meines Seufzens, während die dicke grau (welche eine ,, Emanzipierte“ war) über Kultur sprach.

Wenn Ihr nach Berlin kommt und einer Vorlesung des Professors G. beiwohnen wollt, so könnt Ihr
Euch diese ganze Mühe dadurch ersparen — daß Ihr den Lohnlakai, anstatt Eurer hineinschickt; der Ker wird Euch Alles aufs Haar berichten und noch dazu in der wissenschaftlichsten Sprache, so daß Euch darüber die Haare zu Berge stehen. Ich wette jedoch, daß der Kerl Eure Stiefeln unvergleichlich schlechter putzen wird, als jeder Wiener Lohnlakai, oder aber, er putzt sie Euch mit einer Wichse, die das Leder verbrennt. — Wendet Euch, um über die Vorzüge, welche Dieffenbach vor Hufeland hat, in's Klare zu kommen, nur an den nächsten Eckensteher und er wird Euch berichten: Dieffenbach nenne die Diät die Basis aller Medizin. Darauf sagt der Interpretator der Dieffenbach’schen Diät, diese sei eine schöne Erfindung und die Menschheit könne dafür dem Hoffrat Dieffenbach nicht dankbar genug sein; — nachdem der Interpretator so gesprochen, besäuft er sich in Kümmel und die Sache ist abgemacht. —

Die Philosophomanie erstreckt sich, wie schon gesagt, bis auf die Eckensteher und auf die Hökerinnen. Einmal wollt’ ich mir bei Einer Äpfel kaufen; sie hatte recht schlechte Äpfel die gute Frau — dafür hatte sie aber eine um so bessere Philosophie. Als ich sagte, ihre Äpfel seien schlecht, antwortete sie mir:
„Alles was ist, ist gut.“

Hegel sagt „vernünftig“, das ist jedoch dasselbe, denn das Vernünftige ist immer gut.

Als ich sodann einen von den Äpfeln nahm und hineinbiss und ihr zeigte, daß er wurmstichig sei, entgegnete sie kalt: ,,Die Natur weiß was sie tut; sie hat diesen Apfel wurmstichig gemacht — es hat seinen guten Grund.“

Ich sagte: „Entschuldigen Sie, Frauchen — wenn ich Ihnen in die Rede falle; ich glaube jedoch,, daß es nicht die Natur war, die den Apfel wurmstichig gemacht, sondern der Wurm.“

Hierauf versetzte sie: ,,Auch der Wurm ist Natur, die Natur aber ist Gott...“

Hier sah ich sie bedeutend an und fragte: „Glauben Sie das wirklich, liebste Frau?“

„Ich glaube, was ich weiß, und weil ich weiß, drum glaube ich — und wüsste ich nicht, so glaubte ich auch nicht.“

Diese Deduktion gefiel mir dermaßen, daß ich bei der Philosophie augenblicklich für zwei Silbergroschen Äpfel kaufte.

Sie setzte sich nieder, als wäre das Alles in der größten Ordnung.

So was findet man in Wien freilich nicht; da sind die Hökerinnen weiter nichts als Hökerinnen, und die Eckensteher — oder Ihresgleichen haben in ihrem Leben keine Collegia belegt; selbst der Mittelstand hat es noch nicht dis zum Verständnis der deutschen „Naturphilosophie“ gebracht — ja, Gott verzeih’ es ihm, ich glaube, er hat noch nicht einmal Etwas von Fichtes berühmtem Aufsatz: „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung“ vernommen. — Ich habe es jedoch in Österreich noch nicht erlebt, daß die Lastträger d’rum einen Reisekoffer weniger geistreich von einem Orte zum andern getragen hätten, als die Berliner; im Gegenteil saufen sie weniger Schnaps als diese; — und was die Hökerinnen in Wien betrifft, so sind mir Ihre Äpfel tausend Mal lieber, als die Berlinischen; endlich die übrigen Leute in Österreich anlangend, so sind es sehr heitere, harmlose, artige, lebensvolle, mutterwitzige und gutherzige Menschen! Und haben sie auch das Schießpulver nicht erfunden, so ist das nicht ihre Schuld.




Wir haben jetzt die zwei wichtigsten Anklagen, welche so häufig gegen Euch, Ihr armen Österreicher, erhoben werden, besprochen. — Alle kleineren schließen sich an jene zwei an und lassen sich auf sie zurückführen. Euere Haupt- und Staatsverbrechen bleiben immer:

a) Ihr esset zu viel! und
b) Ihr denket zu wenig!




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moderne Wiener Perspektiven