Eine Vor-Lebensgeschichte

,,Werde kein deutscher Autor, mein Sohn, sonst musst Du Hungers sterben, und kommst in den Schuldturm.“

,,Wenn es auch, nach dem natürlichen Laufe der Dinge, umgekehrt gehen sollte, so daß ich zuerst in den Schuldturm kommen und sodann Hungers sterben müsste, liebe Mutter, so will ich dennoch ein deutscher Autor werden; denn sehen Sie, es muss auch Jemand in den Schuldturm kommen, und dann, was das Hungerssterben betrifft, so ist mir dieses immer schöner vorgekommen, als wenn Jemand von zu vielem Essen stirbt. D’rum denk’ ich, liebe Mutter, ich werde ein deutscher Autor; was weiter geschieht, ist Nebensache — weiter nichts, als Nebensache.“


Hier fing die gute Mutter zu weinen an; der Sohn aber, ein großer Knabe von achtzehn Jahren, ärgerte sich zuerst, fiel ihr dann um den Hals und weinte mit. —

Wißt Ihr, wer dieser Sohn und wer diese Mutter war? Ihr könnt das Zweite erraten, sobald ich Euch das Eine werde gesagt haben. Dieser Sohn war ich, ich selbst, der ich mich, sub heutigem Dato, Euch auf gegenwärtigem Papiere zu präsentieren das ausnehmende Vergnügen habe; ich, jetzt in der Tat deutscher Autor ex professo, damals k. k. österreichischer Fähnrich und Offizier im Regiment Sr. königl. Hoheit des Prinzen Wasa.

Die ganze Geschichte, wie ich sie Euch oben in acht Zeilen erzählt habe, trug sich im Jahre des Heils 1832 zu und zwar in Wien. —

Es ist eine rührende Geschichte, und wert, daß man sie mit Lapidarbuchstaben auf irgend einen Stein schreibt und daneben eine Trauerweide pflanzt Ich möchte sie Euch gern ausführlich breit und verständlich, so recht wie der selige van der Velde seine schwedischen Historien, oder auch so gemütswässerlich wie die traute Madame Hanke in Hamburg ihre Spinnstubengeschichten — oder gar mit so großer Phantasie wie der schöne Herr W. in Wien seine Liebesgeschichten (sage: eigenen Liebesgeschichten) erzählen; muss es jedoch unterlassen, maßen mir das Talent sowohl zum Ersten wie zum Zweiten, absonderlich aber zum Dritten mangelt. —

Ihr müsst daher schon mit den trockenen paar Worten vorlieb nehmen; allenfalls setz’ ich noch Folgendes hinzu.

Ich war von Jugend auf ein gutes Blut, das weiß Gott! Geld habe ich nie viel gehabt. Verstand wohl auch nicht viel mehr, aber an Geist und Herz hat es mir nie gefehlt — das muss mir die ganze Welt nachsagen. — Wer es nicht tut, den nenn’ ich einen Lügner! — Im fünften Jahre schickte man mich zuerst in die Schule, und noch ein halb Jahr früher hatte ich angefangen Klavier zu lernen. Sowohl bei diesem wie bei jenem Geschäft profitierte ich weiter nichts als — Ohrfeigen. Ich lernte sie in den allerschönsten Sorten kennen. In keinem andern Zweige habe ich nachher so gut Auskunft zu geben gewußt, wie in diesem. Es herrschte damals bei uns die Bell-Lancaster’ sche Methode des gegenseitigen Unterrichts; d. h. wenn mir die eine Backe bereits tüchtig aufgelaufen war, wurde die andere vorgenommen. — Diese Methode trug ihre Früchte — Bell-Lancaster bewährte sich: die vielen Ohrfeigen machten mir heiß, ich brach in unsern Garten ein und bemannte die Bäume; mit ihren Früchten kühlt’ ich mich ab. Da wurd’ ich erwischt, und nun, um der Lancaster’schen Hausmethode immer größere Ausdehnung zu geben, schlug man mich nicht mehr aufs Gesicht — sondern klopfte dessen Gegenseite tüchtig durch. O Lancaster! Lancaster!

Allein im siebenten Jahre fing ich wirklich an zu lernen. Jetzt begriff ich’s endlich, was der Schulmeister mit seinen Charakteren, die er auf die Tafel schrieb, beabsichtigte; ich sollte diese Charaktere nachschreiben. Er nannte sie Buchstaben; früher hatte er (oder eigentlich ein anderer Schulmeister) sie immer das Alphabet genannt, und das war für mich nicht nur hebräisch, sondern sogar spanisch gewesen. Mein jetziger Schulmeister war ein gutherziger Alter — er drohte nicht immer gleich mit einer „Maulschelle“, und, was das Beste war, wenn er auch drohte, er gab sie niemals. Ich hatte unter ihm in einem Jahre das Alles nachgeholt, was ich seit dreien versäumt. — Zum Lohne dafür schaffte mir meine Mutter nun auch einen andern Klavierlehrer an, und zwar meinen eigenen jetzigen Schulmeister. Alter Simeon, Du bist ein braver Gesell gewesen und Gott lohne Dir’s! — Wüsste ich, wo Du bist, wahrhaftig! ich würde mich jetzt gleich aufmachen, und — sollt’ es zu Fuße geschehen — zu Dir hinwandern. Dich umarmen. Dir die Hände küssen; ja, beim Propheten! ich könnte Dir etwas vorweinen, so groß ich bin, und so groß mein Bart noch überdies ist. — Allein, sei ruhig, altes Haus! Sollt’ ich jemals ein großer Herr werden — oder auch nur tausend Thaler besitzen: dann sollst Du, es versteht sich falls Du tot bist, — ein Monument aus carrarischem Marmor erhalten, gemeißelt von meinem lieben Landsmanne Ferenczy in Pesth. D’rum sei ruhig, altes Haus!

Glaube mir, viel Tränen sind um Dich schon geflossen aus diesen meinen blaugrauen Augen. — Wenn mir Einer im Leben recht bitteres Unrecht angetan — dann dacht’ ich: ,,Ach, wenn es doch lieber lauter Simeon’s gäbe, die Einem das Kreuz tragen helfen...“ Aber es gibt nur einen Simeon und Gott weiß, was der jetzt macht. —

Ein Mal war ich recht krank. Die Doktores machten lange Gesichter und hielten mir stundenlang den Puls. Ich hielt die Augen zu und tat so, als seien mir die Lider schwer. Ein Bischen aber guckt’ ich doch durch und nach den Doktoribus. Da schüttelten sie das Haupt und sagten der Wirtin, bei der ich wohnte, ganz leise ins Ohr: ,,Schaffen Sie ihn, so lang’ es noch geht, nach dem Spital, damit er Ihnen nicht hier im Hause stirbt.“ Ich hatte Alles gehört, denn ich bin ein pfiffiger Bursche. — Meine Wirtin nun, das war ein böses, herzloses Weib; schon als ich anfing krank zu werden, wollte sie mich nicht länger bei sich dulden, sagte: ihr Logis sei blos ,,für gesunde Herren“ (die Historie spielt in Leipzig) und dann zankte sie Tag für Tag mit mir; befahl ihrer Magd, nicht auf mein Rufen zu hören und keine Gänge für mich zu tun, nicht einmal in die Apotheke — und weil die Magd mitleidiger war, als sie selbst, schickte sie dieselbe fort und nahm eine andere: ihr leibhaftes Ebenbild; eben so hässlich und dürr wie sie an Leib und an der Seele. — als Kadett; doch tat ich so, als hätte ich das Regiment übernommen.

Aus jener Olmützer Zeit sind mir schone Erinnerungen geblieben: Erinnerungen an die Lehren und an die Lehrer. Zwei von dm letzteren werden mir unvergeßlich bleiben — wie der gute alte Simeon. Der Oberlieutnant Jankowich und der Lieutenant Küntzel, beide, glaub’ ich, jetzt Hauptleute oder Majore. Jankowich trug die Geographie vor, in einem so großartigen Geiste — wie ich in allen Ländern, die ich später durchzogen, es nicht wieder gefunden; Küntzel war ein Offizier, dem ich gewünscht hätte, 30 Jahre früher gelebt und gegen oder unter Napoleon gedient zu haben; der wäre ein großer General geworden. Er tradierte Fortifikation und Artillerie — — doch lernten wir von ihm viel, viel mehr als das. Er brachte uns einen esprit militaire par excellence bei. Von ihm haben mir mehr profitier, als von all’ den andern Professoren.

Zwei Jahre nach meinem Austritte wurde ich zum Offizier gemacht, und jetzt reifte die Saat des edlen Lieutenant Küntzel in meiner Brust. Ich hatte mir fest vorgenommen, ein großer Feldherr zu werden. Ich las die Biographien Eugens von Savoyen, Montecuculi’s, Turenne’s, Laudon’s, Friedrichs II., Napoleons, Erzherzog Karls, und studierte Tag und Nacht Taktik, Strategie, Militärgeschichte . . . Wenn ich irgendwo im Freien spazieren ging, dann dacht’ ich mir das Terrain vor mir als ein zum Operieren gegebenes, entwarf Stellungen, Angriff, Verteidigung, Verschanzungen ... und Gott weiß es, wie oft ich Wien, wo ich damals in Garnison stand, besser befestigen wollte. Ich rasierte zu diesem Behufe ganze Vorst?dte, und war mehr als ein Mal willens, den Stephansturm abzutragen, weil er für den Feind einen zu guten Orientierungspunkt abgab. — Sonderbar! und jetzt ist mir der Stephansturm lieber als aller militärische Ruhm. —

Ach, wo seid ihr, phantastische Zeiten! Ist es möglich, daß ihr jemals existiert?

Ein Sturz vom Pferde warf mich aufs schwerste Krankenlager. Ich ward schon aufgegeben, ich glaube, man nagelte schon an meinem Sarge; doch kam ich davon — aber der Leck im Schiffe blieb für Lebenszeit. Alle Träume waren mit einem Male dahin! Achtzehn Jahre alt — musst’ ich schon die Welt aufgeben; meine Welt. O! das war bitter. — Endlich lernt’ ich auch das. Ich konnte nicht mehr General werden, das sah ich; auch nicht einmal ein kleiner .....da beschloß ich ein Autor zu werden!

Es ist im Grunde dieselbe Sache — nur in anderer Gestalt.

Ich warf mich auf die Bücherwelt und studierte — drei Jahre lang so, wie gewiß noch kein Mensch studiert hat. Physik, Naturgeschichte, Philosophie und Literatur . . . ihnen widmete ich täglich acht Stunden, keine Minute weniger und hätt’ es mein Leben gekostet. Hatt’ ich bei Tage keine Zeit, blieb ich in die tiefe Nacht hinein wach — und begrüßte den flammenden Morgen mit dem Buche in der Hand . . . war ich krank, verdrießlich, dumpf im Kopfe; da half Alles nichts: studiert musste werden und zwar acht Stunden netto — eher etwas mehr als weniger. Noch kann ich mich erinnern, daß mich ’mal ein riesiges Kopfweh so sehr plagte, daß ich jede Beile fünf, sechs Mal lesen musste, bis ich sie verstand. — Natürlich daß auf diese Weise viel Zeit verloren ging! Wißt Ihr aber, was ich tat, um meine acht Stunden zu retten? — Ich legte die Uhr vor mich hin und berechnete es mitten im Hegel (denn ihn studierte ich dazumal) auf ein Haar, wie viele Zeit mir das Repetieren der Sätze wegnehme — und folglich wie lange ich eigentlich sitzen müsse, um acht Netto-Stunden, d. h. eigentliche Lern- oder Erkenntnis-Stunden herauszubringen. — Auf diese Art blieb ich volle 18 Stunden auf einem Fleck. —

So wird der schon frühzeitig ein Pedant, der sich mit Wissenschaften abgibt.

So allein jedoch war es möglich, daß ich in drei Jahren, neben meinen naturwissenschaftlichen Studien, einen Kursus in der Philosophie durchmachte, von dem Altvater unserer neuern Schule, Descartes, angefangen bis zu dem jungen Berlinerkinde Hegel, sammt seinen Ausläufern in Königsberg, Irna und Halle; — Alles, Alles dazwischen: Locke, Spinoza, Leibnitz, Wolf, Kant, Fichte, Schelling hatte ich aufgepackt. Mein Gott, wie schwer musste ich tragen! — Und was habe ich jetzt davon? Nichts, als daß ich Alles vergessen, die berühmtesten Sage ausgenommen, wie
etwa diese:

,,Alles was ist, ist vernünftig!“

Hegel.

Oder:

„Ich denke — darum bin ich!“

Fichte und vor ihm besonders Descantes.

Oder aber:
„Wir erkennen an den Dingen blos dasjenige, was uns an ihnen erscheint, nicht aber das, was sie sind . . ”

Kant und Fichte.

Richtig! woher aber wissen wir, daß dem so sei, wenn uns Alles blos scheint? Ferner:

,,Es gibt nur ein Wesen, das Ich; das ist absolut.“

Schelling (in seiner ersten Periode).

Und:

,,Es gibt nur eine Substanz und das ist Gott.“

Spinoza.

Schöner Unterschied!

Mehr, und das im höhern Sinne einzig Reelle, verdanke ich meinem Literatur-Studium, welches zu gleicher Zeit von mir getrieben wurde. — Von den alten Griechen bis zu den allerneugebackensten Franzosen habe ich sie Alle durchgemacht. Manche unter ihnen kosteten mir indes auch Schweiß — die Meisten jedoch haben mich beglückt. Die Dichter und poetischen Autoren täuschen Euch am wenigsten — sie, sie meinen es alle redlich mit Euch und selten habt Ihr’s zu bereuen, daß Ihr ihnen eine Stunde Eures Lebens geschenkt. — Unter allen entzückten mich am süßesten: Homer, Cicero, Dante, Boccaccio, Shakespeare und Cervantes; mit Unmut und Langweile erfüllten mich vor Allen: Petrarca, Calderon, Racine und Klopstock. Dieser Letztere göttliche Sänger des Messias namentlich hat viel bei mir zu verantworten — und seine Bardieten haben mich gefoltert. — Gott vergebe’s ihm!

Als ich die Divina comedia las, da war mir in Wahrheit der Himmel offen und in meinem Herzen wohnten zehntausend Engelein. Noch jetzt kann ich ganze Stellen aus dem Gedichte auswendig; was bei einem schlechten Gedächtnisse, wie das meine, viel ist. — Von Shakespeare wollte mir nicht Alles zusagen, besonders einige von den Lustspielen nicht (doch sind nicht die Fallstafiaden gemeint); am herrlichsten erschienen mir: Lear, Hamlet, der Sturm, das Wintermährchen, Romeo und Julie, der Kaufmann von Venedig. Gegen Heinrich III. hatte ich eine namenlose Idiosynkrafie. [Überempfindlichkeit gegen bestimmte Stoffe]

Ich habe Göthe zu nennen vergessen. Er war, bis zur kleinsten Zeile, mein Abgott. Mit ihm und in ihm wuchs ich empor. — Seine Romanzen und Lieder haben mir den Schlaf geraubt. — Dem Cervantes habe ich seine Episoden im Don Quichotte nie verziehen; jener Camachio ist ein Ungeheuer, den ich hasse.

Auch Sterne habe ich vergessen. Die empfindsame Reise ist glorreichen Ruhmes voll. — Voltaire in seiner Prosa kredenzt Nektar — den er jedoch dann in seinen Gedichten selber austrinkt.

Cicero hat mich vorzüglich als Stylist beschäftigt. Er ist nicht Schuld daran, wenn ich eine schlechte Prosa schreibe.

Doch wie ich merke, so verirre ich mich hier, in die Literaturgeschichte. Das war nicht meine Absicht. Ich werde es vielleicht später doch noch einige Mal tun.

Haltet mir’s zu Gute.

Hier sind wir wieder bei der Stelle, bei dem Punkte meines Lebens angelangt, von wo wir ausgingen. Hierher gehören die Worte meiner guten Mutter, welche ich Euch vorhin mitteilte. —

Als sie mich einst hinter meinen Büchern und Papieren ertappte und sah, wie ich Verse kritzelte (Ihr wisst, ich war damals 18 oder 19 Jahre alt), sagte sie:

„Werbe kein deutscher Autor, mein Sohn, sonst musst Du Hungers sterben und kommst in den Schuldturm.“

Ich bin aber doch ein deutscher Autor geworden.

Gute Mutter, schmolle nicht. Weine!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moderne Wiener Perspektiven