Mittenwald und der Geigenbau. Mit vier Bildern der Photothek

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: Ernst-Rudolf Brendel, Erscheinungsjahr: 1922

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Geigenbauer, Instrument, Orchester, Handwerk, Meister, Saiteninstrument, Klangcharakter, Tonhöhe, Konzert, Musiker, Zuhörer, Musik, Komposition,
Bis in das siebzehnte Jahrhundert muss man zurückgreifen, um die Anfänge des deutschen Geigenbaues im Süden unseres Vaterlandes zu finden. Und eine große Abhandlung wäre nötig, wollte man die Entwicklung der Streichinstrumente und unter ihnen das Werden der Violine schildern, der noch um 1600 in der Musik eine ziemlich untergeordnete Rolle zugeteilt war. Niemand dachte in jener Zeit daran, dass dieses Instrument die Königin des Orchesters und der Liebling großer Virtuosen werden würde. Woran mochte das liegen?

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Michael Prätorius schrieb 1619, die Orchesterstimmung sei bei den Alten um einen Ton niedriger und tiefer gewesen als jetzt, und tadelt diejenigen seiner Zeitgenossen, welche sich unterstünden, den Ton noch weiter zu erhöhen. Dies sei nicht ratsam, sowohl wegen der Violinisten als der Saiteninstrumente überhaupt, denn es müssten vortreffliche Saiten sein, die, bis zu solcher Höhe gestimmt, sich beim Spiel bewährten. Meist käme es vor, dass mitten im Konzert die Quinten „abschnappten“. Wie schlecht müssen die Saiten gewesen sein, die eine weitere Steigerung der damaligen Tonhöhe nicht aushalten konnten. Die Violine konnte schon aus diesem Grunde nur wenig von dem eigenartigen Klangcharakter besitzen, der sie später vor allen anderen Instrumenten auszeichnete. Das lag also nicht allein in dem verhältnismäßig noch nicht durchgebildeten Bau, sondern zumeist an der tiefen Stimmung des Orchesters und nicht zuletzt in der Unzulänglichkeit der Besaitung. Das Ohr der Zuhörer war an sanfte Musik gewöhnt, und man verlangte vom Instrumentenmacher, dass er seinen Erzeugnissen einen milden, angenehmen Ton zu geben verstehe.

Der veränderte Kunstwille der Zeit setzte sich allmählich durch, und mit den gesteigerten Forderungen der Komponisten entfalteten und bereicherten auch die Instrumentenbauer ihr Können. „Seit dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts gewinnt die Instrumentalmusik jene steigende Bedeutung, die eines der Hauptmerkmale der musikalischen Neuzeit ist und schließlich zu ihrer gänzlichen Vorherrschaft führt. Die Rolle, welche die Instrumentalmusik in der seit der Jahrhundertwende im Mittelpunkte des Interesses stehenden begleitenden Vokalmusik spielt, hat zu dieser Entwicklung viel beigetragen. In der Oper insbesondere entwickelte sich das moderne Orchester mit dem Streichquartett als Grundlage. Fortan spielt unter den Instrumenten die Familie der Violinen die erste Rolle, und es ist kein Zufall, dass gerade im siebzehnten Jahrhundert der italienische Geigenbau eine hohe Blüte erlebte. Nicola Amati (1596 bis 1684), Giuseppe Antonio Guarneri (1687 bis etwa 1742) und Antonio Stradivari (etwa 1644 bis 1737) sind Namen, an die der alte Ruhm italienischer Geigenbaukunst gebunden ist; Brescia und Cremona waren die Hauptsitze dieser Familien.“ *)

*) Naumann, Emil, Illustrierte Musikgeschichte. 3. Auflage. Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.

Der Anteil deutscher Meister an der Entwicklung der Violine ist nicht gering. Wenn auch die Namen dieser Instrumente aus dem Italienischen entlehnt sind, was anzudeuten scheint, dass man sich dort mit ihrem Bau schon länger beschäftigte, so ist es doch schwer, zu entscheiden, ob das größte Verdienst auf die Geigenbauer jenseits der Alpen fällt. Italien hatte das Erbe des Zeitalters Leos X. und der anderen großen Medic.er angetreten; unter den glücklichsten Verhältnissen waren der Kunst die Pfade geebnet, da Nicola Amati in Cremona wirkte. Als der aus Tirol stammende Meister des deutschen Geigenbaues, Jakob Stainer, 1621 geboren wurde, hatte seit Jahren die unheilvollste Epoche der Geschichte unseres Vaterlandes begonnen. Kunst und Gewerbe konnten während der dreißigjährigen Kämpfe in schwerster Not nicht recht gedeihen, der Wohlstand der Bürger, die kräftige Jugend und die politische Bedeutung wurden vernichtet. Stainers Leben war ein schwerer Kampf, und erfand ein trauriges Ende. In seinem Sterbejahr 1683 erschienen die Türken vor Wien. Wenn sich aus diesen unruhigen Zeiten auch nur wenige Nachrichten über Stainer erhalten konnten, so erlosch sein Ruhm doch nicht. Die von ihm gebauten Instrumente schützte man zu Lebzeiten des Meisters höher als die Geigen aus Cremona, und bald nach seinem Tode gab es zahllose Fälschungen. Mozart bejah eine Stainergeige, die er hoch in Ehren hielt und als Soloinstrument benützte. Echte Stainergeigen bezahlte man schon um 1832 mit drei bis fünfhundert Dukaten. Stainer hat sie zwar nach den berühmten Kunstwerken des Cremonesers Nicola Amati gebildet, aber die Form und das Besondere der Bauart seiner Geigen ist selbständig ausgedacht; Klangfarbe und Tonstärke sind eigentümlich und so wesentlich von denen der Italiener verschieden, dass man Stainer mit Recht den „Vater der deutschen Geige“ genannt hat.

Spricht man von Mittenwald, dass man einst das „deutsche Cremona“ nannte, einem Ort, der heute noch wegen seiner Instrumente in bestem Rufe steht, so muss man Stainers gedenken. Bei Scharnitz mündet das Gleierschtal in das Isartal, und von da aus führt man in wenigen Stunden die Hochstraße nordwärts nach Mittenwald. Von hier aus wanderte einst der Mittenwalder Uraan Klotz nach Absam in Tirol zu Jakob Stainer in die Lehre und kehrte dann wieder in seine Heimat zurück. Er war ein tüchtiger Schüler, und seine besten Violinen stehen so hoch im Ansehen wie die seines Lehrers. Klotz unterrichtete seinen Sohn Mathias, der später zum Begründer des jetzt noch blühenden Mittenwalder Instrumentenbaues geworden ist. Mathias Klotz war viel auf Reisen gewesen, denn damals betrieben die Geigenbauer ihren Handel im Wandern. Zu seiner Zeit war Mittenwald von einem schweren Schlag betroffen worden, nachdem die Leute im Ort fast zweihundert Jahre hindurch in Wohlstand gelebt hatten. Die Kaufleute von Venedig hatten sich einst beleidigt gefühlt und besuchten seitdem den Bozener Jahrmarkt nicht mehr; Mittenwald war von ihnen zur Niederlage ihrer Waren bestimmt worden. Im Jahre 1679 kam es jedoch dahin, dass man Bozen wiederum zur Vertriebstelle wählte. Da nun fast gleichzeitig der Handel einen neuen Weg über Finstermünz, Fernstein und Reutte zu nehmen begonnen hatte, so verödete die alte Handelsstraße über Mittenwald immer mehr, und der Wohlstand des Marktes sank bedeutend herab. Die „goldene Zeit“ war vorbei; Viehzucht und Ackerbau boten keine nennenswerte Einnahme. In dieser Not erwies sich Mathias Klotz als Helfer. Er wollte aus Mittenwald ein zweites Cremona schaffen. Um 1683 begann er zahlreiche Bürgersöhne im Geigenbau zu unterrichten und rettete so die Heimat vor drohender Verarmung. Da es ringsumher geeignetes Fichtenholz gab, wandte sich auch der größte Teil der Bewohner der Umgegend immer mehr der Herstellung von Geigen zu; die fertige Ware suchten sie als Hausierer zu verkaufen. Später übernahmen Kaufleute, sogenannte „Verleger“, den Vertrieb, und die Mittenwalder Geigen gingen bald in alle Weltteile.

Die lediglich handwerkliche Erzeugung birgt überall, besonders aber beim Geigenbau, die große Gefahr der Verflachung in sich. Es kommt notwendig zu einer öden Mechanisierung des Betriebes, und durch Arbeitsteilung verschlechtert sich die Leistung zusehends. Um der Entartung durch die schematisierende Fabrikation vorzubeugen und die edle Kunst des Geigenballes nicht zum gedankenlosen Handwerk herabsinken zu lassen, ist in Mitteilwald eine Geigenbauschule geschehen, dann wäre die Marktfähigkeit der Erzeugnisse immer tiefer gesunken, und zahlreiche Menschen hätten ihr Brot verloren.

Neben Mittenwald hat sich der Geigenbau noch in Markneukirchen im sächsischen Vogtlande und dem nahe gelegenen Klingenthal stark entwickelt. Auch für Markneukirchen fallen die Anfänge des Geigenbaues in das siebzehnte Jahrhundert. Italien besaß einst einen großen Vorsprung in der Herstellung von Darmsaiten; Markneukirchen erzeugte jedoch schon vor etwa fünfzig Jahren dem Werte nach zwanzigmal so viel Saiten als ganz Italien. Die deutschen Geigenbauorte hatten sich den Weltmarkt erobert. Es ist begreiflich, dass sich in Kriegszeiten ein empfindlicher Rückschlag bemerkbar machen musste, und auch seit 1914 ist dies eingetroffen. Doch steht zu erwarten, dass diese Scharte wieder ausgewetzt zu werden vermag.

Noch immer besitzen die Mittenwalder ihr herrliches Holz, das sorgsam aufgestapelt gelagert ist. Die Vorräte zu allen einzelnen Teilen der Geige harren ihrer Verarbeitung. Jugendliche Geigenbauer, Männer und Frauen, sind fleißig bei der Arbeit. Und es gibt viel zu tun, bis alle einzelnen Teile hergestellt und die ganzen Instrumente fertig sind.

Es ist selbstverständlich, dass an solchen Orten Geigen in verschiedener Qualität und zu mannigfachen Preisen hergestellt werden. Und man muss nicht glauben, dass jede billige Marktware schlecht sein müsse. In den deutschen Geigenbauorten werden auch hochwertige Instrumente erzeugt, die, nach dem Vorbild alter Meister gestaltet, mit Recht geschätzt werden. Paul Bekker hat kürzlich geschrieben: „Es gibt sicherviele neue Geigen, die manchen mittelmäßigen alten überlegen sind, und es ist ebenso töricht wie urteilslos, eine Geige modernen Datums von vornherein gering zu schätzen.“ Er glaubt auch nicht, dass es irgend ein anderes „Geheimnis“ oder eine „Geheimlehre“ der großen Meister des Geigenbaues gegeben hat als das ihrer genialen Persönlichkeit, die etwa, wie dies kürzlich behauptet worden ist, auf spiritistischen: Wege, durch Erscheinen des Geistes des Stradivari, offenbar werden könnten. Bekker glaubt so wenig wie der Geigenbauer Julius Lewin an die vielen Wundergeschichten vom Holz, das in seiner eigentümlichen Beschaffenheit jetzt nicht mehr so zu finden sei, als an die märchenhaften Geschichten von Lackierverfahren. So steht es auch mit der Behauptung, wonach die Geige eil: gewisses Alter erreicht haben müsse, um alle guten Eigenschaften zu besitzen. Lewin bemerkte dazu, die Instrumente der alten Geigenbauer schlugen die damals schon vorhandenen, weil sie sofort klangen.

Klar und überzeugend schrieb Bekker: „Die Gestaltung der Violinform ist ein Stück Musikgeschichte. Sie hängt eng zusammen mit einer zeitlich umgrenzten Art musikalischer Gefühlsgestaltung.“ . . . „Die Geschichte aller Instrumente, auch der vorzugsweise mechanischen, ist keine Geschichte zufälliger Erfindungen. Sie ergibt sich aus der Geschichte des musikalischen Fühlens und Wollens, der Entwicklung der Klangvorstellung, der sie parallel läuft.“ . . . „Man kann die Blüte des Geigenbaues ebenso wenig von der des Überganges von der Renaissance zur musikalischen Neuzeit trennen, wie umgekehrt diese Geschichte nicht ohne die Gestaltender großen Geigenbauer des siebzehnten Jahrhunderts vorstellbar ist. Die Violine fand ihre Weiterentwicklung nur durch das Aufgeben der solistischen Werte, ihre Klangvielheit ordnete sich der Kammermusik an. Dieser Wendung entsprachen die Leistungen späterer Geigenbauer, ihr entsprachen auch die Begabungen der ausübenden Musiker. Die eigentliche Bedeutung der Violine für die Gegenwart beruht überhaupt nicht mehr auf der solistischen, sondern auf der orchestralen und kammermusikalischen Leistungsfähigkeit. Sie ist ein Gemeinschaftsinstrument geworden. Damit entfällt auch für den Violinbau der überfachliche Impuls, die kulturelle Voraussetzung für die geniale Einzelleistung. . . . Die Violine lebt aber weiter unter uns als Gattung, der eine großen überkommenen Muster zum willig nachgeahmten Vorbild dienen.“ So schließt sich das im Anfang über die Entwicklung der Violine Gesagte in sich ab. Sie war das Erzeugnis einer Zeit und ihres musikalischen Kunstwillens. Man braucht also nicht auf unmögliche Entschleierung der „Geheimnisse“ der alten Meister zu warten. Und ebenso wenig ist es nötig, dass Leute, wie Lewin äußert: „lieber einem alten Scherben nachlaufen, bloß weil er alt ist, und die Neues, selbst wenn es besser ist als das meiste Alte, nicht achten, weil es noch keine ,Patina' hat.“

Das Denkmal des berühmten Mittenwalder Geigenbauers Mathias Klotz.
Im Lackierraum der Geigenbauschule.
Die nach dem Lackieren zum Trocknen aufgehängten

Geigenbauer, Das Denkmal des berühmten Mittelwalder Geigenbauers Mathias Klotz

Geigenbauer, Das Denkmal des berühmten Mittelwalder Geigenbauers Mathias Klotz

Geigenbauer, Das Zusammensetzen der Geigen am Trockenofen

Geigenbauer, Das Zusammensetzen der Geigen am Trockenofen

Geigenbauer, Die nach der Lackierung zum Trocknen aufgehängten Geigen

Geigenbauer, Die nach der Lackierung zum Trocknen aufgehängten Geigen

Geigenbauer, Im Lackierraum der Geigenbauschule

Geigenbauer, Im Lackierraum der Geigenbauschule