Abschnitt. 5

Als erster ging Oudinot mit seinen Truppen über, bei der Dunkelheit folgte ihm Ney – doch brach die größere Brücke zweimal in dieser Nacht. Am folgenden Morgen passierten die ersten Nachzügler, darauf gegen Mittag Napoleon mit seinen Garden. Auf dem östlichen Ufer standen noch Victor, Eugen und Davout mit zusammen über 13.000 Mann. Dazu kam die ungeheure Menge Nachzügler und der ganze Rest der Bagage, der sich bis hierher durchgeschlagen hatte, selbst Frauen und Kinder aus Moskau. Inzwischen rückten Tschitschagow und Wittgenstein von beiden Seiten gegen die Beresina vor – eine ganze Division mußte bei Borisow die Waffen strecken. Der Übergang dauerte fort, um 4 Uhr stürzte die Fahrbrücke zum drittenmal ein. Nach zwei Stunden war sie wiederhergestellt, Napoleon war entschlossen, sie noch am 28. November zu halten, um die Nachzügler und den Troß zu retten. Während der Nacht ging niemand über, da die Unglücklichen ihre wärmenden Feuer nicht verlassen wollten. Der dritte Übergangstag brachte die entsetzlichen Greuel, die für alle Zeiten diesem Fluß eine grausige Berühmtheit verschafft haben. Während auf beiden Ufern tapfer gekämpft wurde, gingen zahllose Menschen in dem fürchterlichen Gedränge bei den Brücken und in den eisigen Fluten zugrunde. Am 29. November brach Napoleon um 6 Uhr auf, um 7 Uhr ging die Nachhut Victors über und um 9 Uhr wurden die Brücken verbrannt. Im ganzen mögen die Franzosen bei diesem dreitägigen Übergang an 30.000 Mann verloren haben. Doch auch die geretteten 40.000, von denen noch 14.000 in Reih und Glied marschierten, waren ihrem Schicksal nicht entronnen. Ja, das Grausigste stand ihnen noch bevor: die Kälte!
Das letzte Glück für Napoleon war, daß die Brücken über die Gaina-Sümpfe von den Kosaken nicht zerstört worden waren. So entkam er nach Zembin und am 3. Dezember nach Malodeczno auf dem Wege nach Wilna. Er hatte noch gehofft, mit Hilfe der 20.000 Mann, die um Wilna standen, die Flucht dort zum Stehen zu bringen. Allein sein Heer war völlig aufgelöst: kaum ein paar tausend Mann bildeten noch seinen Schutz oder die Nachhut. Alle andern verdarben vor Hunger und Kälte. Das nächste Magazin war erst in Oszmiana. Die Kälte betrug 16 Grad und stieg bald auf 27 Grad! Da war an Sammlung und Widerstand der armen von den Kosaken gehetzten Truppen nicht zu denken. So beschloß Napoleon, der seinen Heerestrümmern nichts mehr nützen konnte und in Paris dringend nötig war, die Trennung von seinen Leidensgefährten. Er verließ am 5. Dezember heimlich das Heer und ließ Murat als Stellvertreter zurück. Im neunundzwanzigsten Bulletin gab er in seiner Weise der Welt die Kunde von seinem über alle Maßen großen Mißgeschick.*) In schneller Fahrt, von wenigen begleitet, gelangte er über Wilna, Warschau, Glogau, Dresden, Erfurt, Mainz in der Nacht vom 18. Dezember nach Paris.
Indessen vollendete sich der Untergang seines Heeres. Bei der entsetzlichen Kälte lösten sich auch die von Wilna nahenden Verstärkungen völlig auf und vermischten sich mit den entgegenkommenden zerlumpten und erfrorenen Flüchtlingen. Vom 8.-10. dauerte der Aufenthalt in Wilna. Die nichts ahnende, friedliche Stadt war mit einem Schlage der Schauplatz himmelschreienden Elends. Murat, der seiner Aufgabe in keiner Weise gewachsen war, verlor vollständig den Kopf. Statt die Tore und Magazine zu öffnen, blieben diese geschlossen, da nach dem Reglement nur geordnete Truppenverbände eingelassen und verpflegt werden durften. Dennoch war die Stadt im Augenblick mit wandelnden Leichen angefüllt, die bald auf allen Gassen und Höfen vor Hunger und Kalte dahinstarben. Schon am 10. überließ Murat die Stadt den Russen. In dem Hohlweg von Ponari verteidigte Ney, der eigentliche Held dieses elenden Rückzuges, mit der Waffe in der Faust persönlich die Trophäen und Bagagen. Umsonst, alles fiel in die Hände der Feinde. Am 14. Dezember erreichten die letzten Trümmer bei Kowno den Njemen und gelangten über das Eis auf das polnische Ufer; aber erst an der preußischen Grenze war die Verfolgung zu Ende. Sie hatte sich über 115 Meilen erstreckt und fast zwei Monate gedauert. Im ganzen kamen von diesem Feldzuge etwa 40.000 Mann zurück, die aber größtenteils nicht in Moskau gewesen waren, sondern zu den Verstärkungen gehört hatten, darunter 1000 in Reih und Glied, und neun Kanonen. Mehr als eine halbe Million war umgekommen oder in Gefangenschaft geraten, 300.000 Pferde und 1000 Geschütze waren verloren. Noch war Napoleons Macht nicht gebrochen: denn die Russen waren selbst hart mitgenommen und mußten an der preußischen Grenze stehen bleiben: auch waren durch Kutusows Schuld Napoleon, sämtliche Marschälle und zahlreiche Offiziere entkommen, die ihm seine neuen Truppen ausbilden konnten. Es bedurfte noch gewaltiger Anstrengungen, um den Unterdrücker völlig zu Boden zu werfen. Doch die ungeheure Niederlage hatte seine Stellung erschüttert und den Völkern Europas neue Hoffnung und neuen Glauben erweckt, so daß der neue Frühling 1813 die Auferstehung und Befreiung vor allem im deutschen Vaterlande wurde.
*) Das denkwürdige Schriftstück ist datiert: Malodeczno, den 3. Dezember 1812. Folgende Sätze sind besonders bemerkenswert: „Die Wege wurden mit Glatteis bedeckt, die Pferde der Cavallerie, der Artillerie und des Trains kamen alle Nächte nicht hundert- sondern tausendweise um, besonders die aus Deutschland und Frankreich. Mehr als 20 000 Pferde fielen in wenig Tagen, und unsere Cavallerie befand sich ganz zu Fuß, und unsere Artillerie und Fuhrwerk ohne Bespannung. Wir mußten einen guten Teil unsrer Kanonen und unsere Kriegs- und Mundvorräte verlassen und vernichten. Diese am 6. so schöne Armee war am 14. ganz verändert: ohne Cavallerie, ohne Artillerie, ohne Fuhrwerk ... Diejenigen der Leute, welche die Natur nicht gestählt hatte, um allen Veränderungen des Zufalls und des Glücks zu trotzen, schienen erschüttert, verloren ihre Heiterkeit und gute Laune, und träumten nur von Ungemach und Unglück: andere aber, welche sich über alles dies erhaben geschaffen fühlten, behielten ihre Heiterkeit und gewöhnliches Benehmen bei und sahen in den verschiedenen zu überwindenden Schwierigkeiten nur neuen Ruhm. ..... Die Gesundheit Sr. Majestät ist nie besser gewesen.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812