Abschnitt. 4

In einer acht Meilen langen Kolonne bewegte sich das Heer der Heimat zu. Am 29. Oktober wurde das Leichenfeld von Borodino überschritten. Die entsetzlichen Verwesungsgerüche zwangen zu einem weiten Umwege. Das Thermometer war bereits auf vier Grad R. Kälte gesunken und fiel in drei Tagen abermals um vier Grad. Hunger und Kälte lichteten die Reihen und vermehrten die Zahl der Nachzügler. Wehe denen, die von den Kosaken und Bauern ergriffen wurden: sie empfingen die Rache dafür, daß Napoleon die Tausende von russischen Gefangenen auf seinem Rückzuge erschießen oder verhungern ließ und alle Städte und Dörfer verbrannte.
Am 1. November langte Napoleon mit der jungen Garde in Wjäsma an; dort mußte er einen Tag warten, da die Nachhut unter Davout noch zwölf Meilen zurück war. Zwar rettete der tapfere Marschall seine Truppen durch einen kühnen Gewaltmarsch; aber man war mit ihm unzufrieden, weil er zu langsam und pedantisch vorging. Die Russen, die sich erst spät zur Verfolgung angeschickt hatten, standen seitwärts und bedrohten die Rückzugsstraße. Doch Napoleon setzte seinen Marsch fort und überließ es seinen Marschällen, sich aus der Klemme zu ziehen. Mit großen Verlusten schlugen sich diese am 3. nach Wjäsma durch und überließen fortan dem tapferen Ney die Nachhut. Die russische Hauptmacht hatte sich vom Kampfe ferngehalten: sie ahnte nicht, daß die Franzosen in vierzehn Tagen auf die Hälfte zusammengeschmolzen waren! Nacht für Nacht mußten die armen Truppen bei starker Kälte in Schnee und Eis biwakieren. Pferde- und Hundefleisch, fast roh gegessen, bildete die einzige Nahrung. Nur die Garden hatten etwas Mehl erhalten. Niemand wagte die Straße zu verlassen, um nicht den Russen in die Hände zu fallen. Unterwegs, in Michailewska, erhielt Napoleon beunruhigende Nachrichten aus Paris, die ihn mit Sorgen für seinen Thron erfüllten. Außerdem erfuhr er, daß Marschall Victor vor Wittgenstein bis Senno zurückgegangen sei. Er befahl ihm, auf jeden Fall bis an die Düna zu gehen, und deutete ihm zum ersten Male den Zustand seines Heeres an, während er Macdonald und Schwarzenberg über seine Not völlig in Unkenntnis ließ. Wie wertvolle Hilfe hätten sie ihm leisten können!
Am 9. November erreichte Napoleon Smolensk; aber in welchem Zustand! Seine Verluste waren bereits ungeheuer: 44.000 Mann und 138 Geschütze. Von dem Rest waren 35.000 Mann waffenlos, und in Smolensk mußten abermals 140 Geschütze aus Mangel an Pferden und Munition zurückgelassen werden. An ein Bleiben war trotz der dortigen Verstärkungen und Magazine nicht mehr zu denken; denn die Nachrichten von der Beresina klangen zu beunruhigend. Hätte man wenigstens an alle Flüchtlinge Waffen und Lebensmittel ausgeteilt! Allein die Magazine wurden schlecht verwaltet, und die Mehrzahl der Soldaten ging bei der Verteilung leer aus, weil sie nicht mehr in Reih und Glied marschierte. Dann brach er vom 11.-14. staffelweise bei scharfer Kälte auf dem südlichen Dnjepr-Ufer auf. Ein weiter Umweg Eugens über Duchowtschina hatte den Marsch verzögert. Napoleon wähnte Kutusow auf dem Wege nach Witebsk, das Wittgenstein in Händen hatte. Allein das russische Hauptheer, auch stark zusammengeschmolzen, aber in guter Verfassung, stand bei Krasnoi und hatte das Schicksal der weit auseinandergezogenen französischen Kolonne in Händen. Doch Napoleons Anwesenheit lähmte den russischen Feldherrn, und sein Genie rettete das Heer, allerdings mit gewaltigen Verlusten (6000 Tote und 26.000 Gefangene, sowie 200 Kanonen). Das Korps des Marschalls Ney, der erst am 16. November nachts Smolensk verlassen hatte, wurde abgeschnitten und entging nur durch einen kühnen nächtlichen Übergang über die Eisschollen des Dnjepr der gänzlichen Vernichtung.
Als Napoleon bei Krasnoi dem Verderben entronnen war und auf Orsza zueilte, um den Dnjepr zu überschreiten, erhielt er die Hiobsbotschaften, Schwarzenberg sei allzu weit entfernt und könne ihm nicht mehr helfen, Minsk mit seinen großen Magazinen befinde sich in russischen Händen und Victor stehe bei Smoliany, ohne gegen Wittgenstein etwas ausgerichtet zu haben. Sofort befahl er dem General Dombrowsky, der mit etwa 5000 Mann bei Borisow stand, die nahe Brücke über die sumpfige Niederung der Beresina unter allen Umständen zu halten. Oudinot sollte ihm mit 13.000 Mann von Victors Armee zu Hilfe kommen, dieser Wittgenstein möglichst zurückhalten. In Orsza sammelte Napoleon die Trümmer seines Heeres – es waren nur noch 18.000 Mann in Reih und Glied. Mit Mühe errichtete er sechs Batterien. Die meisten Adler wurden verbrannt, die beiden in Orsza vorgefundenen Pontontrains mit 60 Fahrzeugen zerstört. Zum Glück für die Armee bewahrte General Eblé, der Kommandeur des Brückentrains, zwei Feldschmieden, zwei Wagen mit Kohlen und sechs Wagen mit Instrumenten und Eisenzeug vor der Vernichtung.
Am 19. und 20. November ging das französische Heer bei Orsza über den Dnjepr, nur Davout mußte noch auf Neys Rückkehr warten. Erst am nächsten Tage folgte er, nachdem bereits auf dem rechten Flußufer der verloren geglaubte Ney sich wieder eingefunden hatte. Doch dieser Lichtblick wurde durch die niederschlagende Meldung verdunkelt, daß sich der Brückenkopf von Borisow in den Händen der Russen befinde und die Brücke über die Beresina von den Feinden zerstört worden sei. Am 23. gelangte Napoleon nach Bobr, und als er erfuhr, daß eineinhalb Meilen oberhalb von Borisow bei dem Dorfe Studienka die Reiterei den Fluß durchritten habe, sandte er General Eblé mit allen Pionieren an diese Furt, um einen Übergang herzustellen. Eingekeilt zwischen drei russischen Heeren, während sein eigenes Heer in völliger Auflösung begriffen, halb wahnsinnig vor Hunger und Angst die weiten Waldungen zwischen Bobr und der Beresina durchirrte, versuchte Napoleon das Unmögliche.
Die verfolgenden Korps der ganz zurückgebliebenen russischen Hauptarmee standen noch sieben Meilen zurück, weit hinter Bobr. Wittgenstein war nur zwei Meilen von Studienka entfernt, wußte aber nicht, ob und wo er angreifen sollte. Tschitschagow stand auf dem westlichen Ufer der Beresina, gegenüber von Borisow, eine starke Abteilung unter Tschaplitz bewachte die Furt von Studienka. Doch das Glück war Napoleon hold. Von Oudinot getäuscht, zogen die Russen nach Süden ab, im Glauben, Napoleon wolle unterhalb Borisow übergehen. Selbst Tschaplitz räumte seine Stellung bei Studienka. Dort begann nun am 25. eine fieberhafte Tätigkeit. Das Dorf wurde niedergerissen, Bäume gefällt, Napoleon feuerte persönlich die Soldaten zur Eile an. Sie arbeiteten mit der größten Aufopferung, stundenlang bis an den Hals im Wasser stehend. Endlich, am 26. November wurden die beiden Brücken fertig, um 1 Uhr die kleinere für Fußgänger, um 4 Uhr die größere für Fuhrwerke und Reiter. Sie standen jede auf 23 Böcken im Wasser und bogen sich unter der Last bis unter den Wasserspiegel, so schwach waren sie. Die Brücken waren ohne Geländer und lagen 195 Meter auseinander. Die Fahrbrücke hatte nur die Breite eines Geschützes. Der Untergrund war schlammig, die Breite des mit Eis gehenden Flusses war bei dem vorangegangenen Tauwetter auf 108 Meter angewachsen, die Tiefe betrug zwei Meter. Zum Glück waren die sumpfigen Ufer gefroren und passierbar.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812