Abschnitt. 3

So zog ihn sein Schicksal immer weiter von seinen Hilfsquellen hinweg in das unendliche Rußland hinein. Auf einer einzigen Heerstraße folgte sein Heer dem Feinde über Dorogobusch, Wjäsma, Gschatsk, immer auf den Kampf gefaßt und immer wieder von einem entschwindenden Phantom genarrt. Noch ehe es vor den Toren Moskaus zur Schlacht kam, wurde auf russischer Seite der unbeliebte und unverstandene Barclay auf allgemeines Verlangen durch den 67jährigen Vollblutrussen Kutusow ersetzt, der soeben den Krieg mit den Türken beendet hatte. Der 7. September brachte endlich die von beiden Teilen ersehnte Schlacht bei Borodino, nahe von Moschaisk nn der Moskwa, wo die Russen endlich eine passende Stellung gefunden hatten. Die Gegner waren ungefähr gleich stark und kämpften mit unerhörter Heftigkeit. Endlich wurden die russischen Verschanzungen genommen, wobei Bagration die Todeswunde erhielt. Bei den Franzosen war Ney der Held des Tages, Kutusow dagegen hielt sich untätig im Hintergrund. Doch Napoleon nutzte seinen Sieg nicht aus. So weit von Paris entfernt, wollte er die Garden, das letzte noch unversehrte Korps, nicht auch noch daransetzen. Und doch hätte er durch einen letzten Vorstoß das stark erschütterte russische Heer aufreiben und damit den Krieg entscheiden können. So entgingen die Russen der Vernichtung und behaupteten sogar einen Teil des Schlachtfeldes. Ja, Kutusow konnte dem Zaren nach Petersburg einen Sieg melden. Die Verluste dieser furchtbaren Schlacht waren ungeheuer: 28.000 Franzosen, darunter 19 Generale, 52.000 Russen.
Kutusow sah sich außerstande, Moskau zu schützen; schweren Herzens mußte er die ehrwürdige Hauptstadt des Landes preisgeben. Einen ganzen Tag (13. September) währte der Durchzug des Heeres, dem sich fast die ganze Bevölkerung, über 200.000 Menschen, anschloß. Außer zahlreichen Verwundeten blieben nur die Fremden, meistens Franzosen, und die Hefe der Bevölkerung zurück. In der Eile wurden große Vorräte und Mengen von Lebensmitteln zurückgelassen. Am Nachmittage des 14. September hielt Napoleon seinen Einzug in Moskau. Welcher Unterschied gegen seine früheren Eroberungen! Hier kam ihm keine Abordnung mit den Schlüsseln der Stadt entgegen, niemand zeigte sich auf den leeren Straßen. Dennoch glaubte Napoleon, im Besitze Moskaus, daß der Zar um Frieden bitten würde. Sein Heer aber, das kaum noch 100.000 Mann betrug, hatte nach den ungeheuren Märschen und Entbehrungen nur das eine Verlangen nach Ruhe, Erholung und Beute.
Doch bereits am selben Abend brach an mehreren Stellen der Stadt Feuer aus. Man glaubte an Zufall und versuchte zu löschen. Allein in der Nacht erneuerte sich das Feuer mit doppelter Wut. Kein Zweifel, daß die lichtscheuen Gestalten der Sträflinge, die man hie und da erkannte, die angestellten Brandstifter waren. Der Gouverneur Graf Rostopschin hatte beim Abzug den großartigen Plan entworfen, ein glänzendes Zeugnis seiner Vaterlandsliebe, und nun überredete er die flüchtigen Bewohner, die von weitem den Untergang ihrer Stadt beobachteten, daß die Franzosen die Urheber seien. Die unglücklichen Eroberer, so grausam um den Erfolg aller ihrer Mühen gebracht, gaben sich nun dem Plündern der Überreste hin. Kein Kommando vermochte der wilden Unordnung Einhalt zu tun und die maßlose Vergeudung der Lebensmittel zu hindern. Napoleon sah vom Kreml ohnmächtig auf die Zerstörung der herrlichen Stadt und die beginnende Auflösung seines Heeres. So lange die Feuersbrunst währte, mußte er außerhalb der Stadt Wohnung nehmen. Endlich am 20. erlosch das Feuer, nachdem der größte Teil der Stadt zerstört war. Von 4000 steinernen Häusern standen noch 200, von 8000 Holzhäusern 500. Von den 1600 Kirchen waren nur 100 unbeschädigt geblieben, aber auch mehr als 20 000 Verwundete sollen verbrannt sein.
Napoleon befand sich in einer trüben Lage. Das feindliche Heer stand in der Nähe von Moskau, an seine Vernichtung war nicht mehr zu denken. Die Hauptstadt selbst nützte ihm nichts: er konnte hier unmöglich überwintern. Und doch durfte er sein Heer nicht rasch nach Smolensk zurückführen (was er noch gut gekonnt hätte); denn damit hätte er seinen Mißerfolg eingestanden und seine europäische Stellung erschüttert. So blieb er denn in Moskau und ließ die kostbaren Wochen bis zum Anbruch des Winters verstreichen. Er klammerte sich an die Hoffnung, daß der Zar doch Frieden schließen würde.
Die Einnahme von Moskau hatte auf Alexander wirklich tiefen Eindruck gemacht. Er war erzürnt auf Kutusow, der seinen Vorgänger Barclay in keiner Weise übertraf. Indessen wurde im russischen Volke die Siegesnachricht von Borodino geglaubt und die Einäscherung von Moskau den Franzosen zur Last gelegt. Man vertraute weiter auf Kutusow und die gute Sache, und der Zar war klug genug, jeden Gedanken an Frieden zurückzuweisen. „Napoleon oder ich, ich oder er!“ das war sein felsenfester Entschluß. Der Freiherr vom Stein war hierin sein treuer Berater. Im Lager aber stand dem alten Feldherrn der geniale Oberst von Toll zur Seite. Er überredete Kutusow, südlich von Moskau die Moskwa zu überschreiten und bei Tarutino auf der alten Straße nach Kaluga, wo große russische Magazine waren, sich aufzustellen. So schützte das Heer die reichen südlichen Provinzen und schädigte durch zahllose Kosakenschwärme die französischen Transporte zwischen Smolensk und Moskau empfindlich. Dazu hatte Kutusow Muße genug, sich außerordentlich zu verstärken und seine Soldaten mit Wollsachen und Proviant für den Winterfeldzug auszurüsten. Vor allem hoffte er auf den Winter, der Napoleon von selbst aus Moskau vertreiben würde. Wittgenstein sollte von Norden, Tschitschagow, der Tormassow abgelöst hatte, von Süden an der Beresina zusammentreffen, um ihn dort abzufangen.
Napoleon wartete vergebens auf die Friedensgesandten seines Gegners; einen Vorstoß gegen Petersburg hielt er für zu gewagt; schließlich versuchte er selbst Unterhandlungen – vergeblich. Seine Stellung in Moskau war nicht zu halten. Nur in Moschaisk und Smolensk waren stärkere Abteilungen zurückgeblieben, denen überlegene feindliche Heere gegenüberstanden. Die ungeheure Rückzugslinie wimmelte von Kosaken und bewaffneten Bauern, die zahllose Gefangene machten und, erbittert über selbst erlittenes Unrecht, aufs grausamste ermordeten. Die französische Kavallerie war in ihrem elenden Zustande diesem Treiben gegenüber machtlos. Auch das Hauptheer in Moskau litt infolge des Brandes an Mangel und Zuchtlosigkeit. Dennoch zögerte Napoleon in eiteln Friedenshoffnungen – er schrieb sogar persönlich an den Zaren – noch einige verhängnisvolle Tage. Am 15. Oktober fiel der erste Schnee, der Vorbote des russischen Winters, der in diesem Jahre außergewöhnlich spät eintrat. Drei Tage darauf wurde Murat mit seiner Vorhut überfallen und empfindlich geschlagen. Jetzt erst ordnete Napoleon den Rückzug an. Noch hätte er ohne allzu große Opfer Smolensk erreichen und dort stehen bleiben können, wenn er den nördlichen, noch ganz unberührten Weg über Bieloi eingeschlagen hätte, oder wenigstens den geraden Weg über Moschaisk. Allein noch jetzt war sein Hochmut so groß, daß er gerade den südlichen, vom Feinde bedrohten Weg über Kaluga wählte.
Am 19. Oktober setzte sich das französische Heer in Bewegung. Obgleich in der Schnelligkeit seine einzige Rettung lag, wurde es von einem ungeheuren Troß nachfolgender Beutewagen und flüchtender Landsleute, Männer, Frauen und Kinder, begleitet und nahezu gelähmt. Proviant mangelte, Munition war nur für eine Schlacht vorhanden, auch fehlte es den Soldaten an Fußzeug und Winterkleidung. Napoleon hoffte, da die Russen noch auf der alten Straße bei Tarutino standen, sie auf der neuen Straße zu überflügeln und ihnen in Kaluga zuvorzukommen. Doch bei der Langsamkeit seines Heeres mißlang dieser Plan; die Russen schoben sich rechtzeitig auf der neuen Straße dazwischen, und so kam es am 24. bei Malo-Jaroslawetz zu einem heftigen, achtzehnstündigen Kampf. Noch einmal lächelte das Glück dem Kaiser; denn Kutusow ging auf Kaluga zurück, und Napoleon, der die Schlacht nicht fortsetzen wollte, hätte kühn auf dem kürzesten Wege durch unberührte Gegenden nach Westen marschieren können. Statt dessen entschloß er sich nach reiflicher Überlegung am 26. für den Rückzug auf Moschaisk, wo das VIII. Korps noch lag. Aber der Winter war angebrochen, die Vorräte verzehrt, die Marschroute nach Smolensk bereits auf dem Herweg völlig ausgesogen. Napoleon hatte den Untergang seines ihm noch verbliebenen Heeres selbst besiegelt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812