Abschnitt. 2

Fast drei Wochen hielt sich Napoleon in Wilna auf, wo er als Befreier mit einem festlichen Empfang begrüßt worden war. Der größte Teil von Litauen samt Kurland, Wolhynien und Podolien gehörte ja erst seit 19 bezw. 21 Jahren zu Rußland, während der Teil jenseits der Düna und des Dnjepr mit der Hauptstadt Witebsk schon bei der ersten polnischen Teilung 1772 russisch geworden war, Napoleon hegte natürlich den Wunsch, diese Bevölkerung zum Abfall von Rußland zu bewegen; allein er wollte auch dem Freiheitsdrang der Nationalitäten nicht zu weit entgegenkommen, da sein eigenes Reich ja eine Fremdherrschaft ohnegleichen bedeutete. Als daher der polnische Reichstag in Warschau feierlich die Wiederherstellung Polens und die Wiedervereinigung mit Litauen beschloß, fand die polnische Gesandtschaft mit diesen Beschlüssen bei ihm kein besonders gnädiges Gehör. Auch wollte Napoleon es nicht ganz mit Alexander verderben, auf dessen Friedensliebe er baute. Er gab daher den Polen eine ausweichende Antwort und dämpfte so den Eifer seiner neuen Freunde.
Als die Zeit verstrich und der Zar nichts von Friedensanerbietungen hören ließ, raffte sich Napoleon zu einem zweiten Vorstoß auf. Sein Plan war, die erste Westarmee von ihren Verbindungen abzuschneiden und womöglich zu vernichten. Die Russen hatten ursprünglich die Absicht gehabt, sich im Lager von Drissa zu behaupten; aber zu ihrem Glück ließen sie an der Düna nur ein kleines Heer unter Wittgenstein zurück, wahrend die Hauptarmee über Polozk nach Witebsk zurückging, wo sie Bagration erwartete. Der Zar aber verließ das Heer und eilte nach Moskau, der am meisten bedrohten alten Hauptstadt seines Reiches. Dort begeisterte er die Bevölkerung, Adel und Bürgerschaft, zu den größten Opfern für das Vaterland; dann eilte er nach Petersburg. Der Krieg wurde nun erst recht ein Volkskrieg, und in Scharen strömten die Rekruten, größtenteils Leibeigene, zu Alexanders Fahnen, um Rußlands heilige Erde zu schützen. Napoleon, der auf den Beistand des unzufriedenen Moskauer Adels und der auf niedrigster Stufe stehenden Klassen gerechnet hatte, bekam es mit beiden zu tun. Wie sollte er die entfesselten nationalen und religiösen Leidenschaften des jungen, kräftigen Volkes überwinden? Indessen, noch stand das russische Hauptheer auf litauischem Boden bei Witebsk und brannte, des beständigen Rückzuges müde, ebenso auf die Schlacht wie Napoleon, der in Eilmärschen von Westen heranzog. Da erhielt der russische Feldherr die entscheidende Nachricht, daß Bagration bei Mohilew nicht zu ihm habe durchbrechen können. Nun gab Barclay die Schlacht auf und ging zum Ärger Napoleons, gerade als er ihn erreicht hatte, weiter über die alte russische Grenze nach Smolensk zurück.
Ohne Zweifel verdankten die Russen ihre späteren großen Erfolge diesem beständigen Rückzuge; denn vereinzelt und vielleicht auch vereinigt wären sie, solange noch die kolossale Übermacht Napoleons bestand, geschlagen worden. Diese ging aber in den ersten Monaten des Feldzuges unrettbar verloren. Denn während die Feinde Napoleons sich täglich verstärkten, kostete ihm jeder Marsch in diesen öden Gegenden, in die er immer mehr hineingelockt wurde, bei der übermäßigen Hitze und dem schlechten Trinkwasser Tausende von Soldaten und zahllose Pferde. Die Proviantwagen waren weit zurückgeblieben, und Magazine gab es nicht in diesen endlosen Waldungen, Und doch durfte Napoleon nicht in Witebsk stehen bleiben und sich mit der Eroberung Litauens begnügen. Abgesehen davon, daß die Düna und der Dnjepr im Winter zufroren und keine Verteidigungslinie für seine Winterquartiere geboten hätten, verlangte der Ruf des großen Schlachtenkaisers glänzende Siege und Vernichtung des Feindes. Stillstehen wäre für ihn eine Niederlage gewesen. Eigentümlich erscheint es uns jetzt, daß die Russen gar nicht ahnten, wie klug ihre Taktik war, sondern über den Fremden an ihrer Spitze murrten, der es nicht zur Schlacht kommen ließ und tatsächlich auch nur die Vereinigung der beiden Westarmeen erstrebte. Im letzten Grunde ist also auch nicht Barclays kluge Überlegung, sondern die fehlerhafte Aufstellung der Russen in zwei weit getrennten Heeren die Ursache ihres Rückzuges gewesen, durch den sie unbewußt ihren besten Bundesgenossen, die ungeheure Ausdehnung des Kriegstheaters, zur Geltung brachten.
Napoleon folgte seinem Gegner, der ihm zum zweitenmal entronnen war, nicht auf den Fersen, sondern er ließ die beiden so lange getrennten russischen Heere sich westlich von Smolensk vereinigen und ihm zur Schlacht entgegenrücken. Inzwischen umging er in weitem Bogen ihre Flanke, indem er nahe bei Orsza über den Dnjepr ging und, durch den Fluß von dem nichts ahnenden Feinde getrennt, auf Smolensk eilte. Er wollte sich also zwischen den Feind und Moskau schieben, um ihn von allen Seiten zu erdrücken und des weiteren Rückzuges zu berauben. Doch dieser geniale Plan wurde vereitelt. Eine russische Division war nämlich bei Krasnoi auf dem linken Ufer zurückgeblieben und zog sich beim Herannahen der Franzosen langsam auf Smolensk zurück, in das sich nun auch andere Truppen hineinwarfen. Noch hätte Napoleon vor der Ankunft der russischen Hauptkräfte die Stadt nehmen können, doch verlor er einen ganzen Tag (den 16. August) mit unnützem Warten auf seine Verstärkungen. Auch am folgenden Tage zögerte er, weil er ein Hervorbrechen der Russen erwartete. Erst als die zweite Westarmee abzog, begann er den Sturm auf die südlich vom Fluß gelegene Festung – die breite Furt oberhalb der Stadt fand er nicht. Der Angriff wurde abgeschlagen. In der Nacht räumte Barclay die Zitadelle, brach die Brücken ab und folgte mit seiner Armee, obwohl diese auf den Kampf brannte, Bagration nach. Tiefer, aufs höchste über Barclays vermeintliche Feigheit erbittert, der Rußlands heilige Grenze preisgab, war auf der Moskauer Straße am nördlichen Flußufer abgezogen, ohne sie irgendwie zu sichern. Die zurückgebliebene erste Westarmee war durch diesen Verrat in Napoleons Hand gegeben. Aber obwohl er die Schlacht so lange gesucht hatte und sein Schicksal davon abhing, wagte er nicht, oberhalb der Stadt den Dnjepr zu überschreiten und Barclay abzuschneiden. Vielmehr ließ er den 18., der ihn in den Besitz der brennenden Stadt brachte, verstreichen und erst am folgenden Tage seine Truppen bei Smolensk übersetzen. Die abziehenden Russen waren immer noch in gefährlichster Lage; sie hatten falsche Wege eingeschlagen und wurden nur durch Barclays Geistesgegenwart gerettet. Ihre Nachhut entging mit Not in einer engen Schlucht bei Walutina-Gora auf der Moskauer Straße dem Untergang. Napoleon war diesem blutigen Gefecht ganz fern geblieben. Der Sieg war ihm bei Smolensk aus den Händen gewunden, und er hatte zum dritten Male das Nachsehen.
Smolensk, die alte russische Grenzfestung gegen das Polenreich, stellte den kühnen Eroberer vor die folgenschwere Entscheidung: Sollte er bleiben oder gegen Moskau vordringen? Für das erstere sprachen alle militärischen Gründe: die Not seines zusammengeschrumpften Heeres, das, anfangs dreifach überlegen, jetzt den Feind nur wenig übertraf, der nahe Winter, das Vordringen der russischen Flügelheere – Wittgenstein an der Düna und Tormassow am Bug –, die Bedrohung seiner Magazine und der Rückzugslinie. Für den Vormarsch sprachen lediglich politische Erwägungen, daß ein Sieg notwendig und in Moskau von dem willensschwachen Zaren der Friede zu holen sei, Als daher Murat meldete, daß der Feind eine Schlacht suche, brach er von Smolensk auf, wo er eine Woche geweilt hatte. „Der Wein ist eingeschenkt,“ sagte er, „er muß ausgetrunken werden.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812