Abschnitt. 1

Napoleon hatte bereits im Jahre 1807 mit Rußland die Waffen gekreuzt, als es mit dem schwerbedrängten Preußen verbündet war. Im Frieden zu Tilsit überließ er dem Zar Alexander das schwedische Finnland und ein Stück von Preußisch-Polen, das dem neugebildeten, Herzogtum Warschau verloren ging. Dafür trat Rußland der Kontinentalsperre bei und hielt Frieden, während er sich mit Spanien und Österreich auseinandersetzte. Als Napoleon aber auf der Höhe seiner Macht stand, schwand die Rücksicht auf seinen russischen Freund, dessen Machtstellung seinem Ehrgeiz unerträglich war. Überdies wurde sein Ansehen durch Mißerfolge gegen England und Spanien vor dem eigenen Volke und dem Ausland erschüttert. Das trieb ihn zu der neuen Unternehmung, die allen bisherigen Ruhm überstrahlen sollte. Im Dezember 1810 verjagte Napoleon ohne jeden Grund den Herzog von Oldenburg aus seinem Lande, obwohl er mit dem Zaren eng verwandt war. Die Antwort ließ nicht auf sich warten: Alexander hob die Kontinentalsperre auf. Er war für immer mit Napoleon fertig.
Das Jahr 1811 verlief auf beiden Seiten mit gewaltigen Kriegsrüstungen. Auf diplomatischem Gebiet ließ Napoleon sich mehrere Vorteile entgehen: Schweden, der natürliche Feind Rußlands, wurde vom Zaren durch die Zusicherung Norwegens gewonnen. Die Türken, nicht minder feindselig gesinnt, schlossen im Mai 1812 mit Rußland Frieden. So wurden im Laufe des Feldzuges zwei bedeutende russische Heere gegen die Franzosen frei. Überdies zahlte England seit dem Juli 1812 bedeutende Hilfsgelder.
Doch Napoleon trotzte auf die Stärke seines Heeres. Abgesehen von den bedeutenden Streitkräften, die er in Spanien, Frankreich und Italien zurückließ, brachte er etwa 600.000 Mann, wovon zwei Drittel Verbündete der Franzosen waren, zum Kampfe gegen Rußland auf. Diese ungeheure Masse wälzte sich im Frühjahr 1812 der russischen Grenze zu. Proviant für vierzig Tage wurde auf 6000 Fahrzeugen nachgeführt. In Rußland sollte dann die weitere Verpflegung aus Magazinen stattfinden, die von Danzig und Thorn aus womöglich auf dem Wasserwege gefüllt werden konnten. Wegen der ungeheuren Menge von Pferden (330.000), die zur Hälfte unterwegs aus Deutschland einfach weggenommen worden waren, wurde der Feldzug hinausgeschoben, bis im Mai die Grasfütterung begann. Doch waren bereits an der Grenze zahllose Reiter unberitten: ein böses Vorzeichen für die kommenden Strapazen. Die Russen brachten während des ganzen Krieges nur 430.000 Mann ins Feuer, die zum großen Teil nicht einmal militärisch ausgebildet waren. Indessen ersetzten sie diese Mängel durch glühende Vaterlandsliebe und den gemeinsamen Glauben. Auch bekamen sie im eigenen Lande bessere Verpflegung und bedeutende Verstärkungen, während das französische Heer rasch zusammenschmolz.
Am 12. Juni kam Napoleon von Dresden, wo er alle „verbündeten“ Fürsten noch einmal um sich versammelt hatte, in Königsberg an. Sein Heer war bis zum Njemen vorgerückt, der die Grenze zwischen Rußland und dem Herzogtum Warschau bildete. Er wußte, daß die Russen seinen Angriff in Litauen erwarteten und in einem sehr verfehlten Kriegsplan zwei sog. Westarmeen gebildet hatten. Die erste, unter dem Kriegsminister Barclay de Tolly, einem Livländer (110.000 Mann), stand bei Wilna, der alten Hauptstadt von Litauen, und konnte sich bei einem Angriff hinter die Düna in das befestigte Lager von Drissa zurückziehen. Die zweite viel kleinere Westarmee unter dem Fürsten Bagration (40.000 Mann) stand zwanzig Meilen weiter südlich bei Wolkowisk und sollte den Franzosen in den Rücken fallen. Die übrigen Heere waren noch in der Sammlung begriffen oder weit entfernt in Finnland und an der Donau. So waren die russischen Streitkräfte in gefährlicher Weise zersplittert und einer ungeheuren Übermacht preisgegeben.
Napoleon gedachte seine Vorteile auszunutzen. Er selbst übernahm den Oberbefehl über das Hauptheer, das aus den Kaisergarden unter Lefebvre, Mortier und Bessières, dem I., II., III. Armeekorps unter Davout, Oudinot und Ney und aus den ersten beiden Kavalleriekorps unter Nanfouty und Montbrun zusammengesetzt war. Mit dieser Heeresmacht wollte er den Gegner bei Wilna schlagen und sich wie ein Keil Zwischen die beiden russischen Heere schieben. Sein Stiefsohn Eugen Beauharnais, der Vizekönig von Italien, befehligte das IV. Armeekorps. Außerdem war ihm Gouvion St. Cyr mit dem VI. (bayrischen) Korps und Grouchy mit dem III. Kavalleriekorps zugeteilt. Dieses kleinere Heer sollte den Kaiser unterstützen und seine rechte Flanke decken. Noch weiter rechts rückwärts bei Warschau stand sein Bruder Jérôme mit dem V. (polnischen), VII. (sächsischen), VIII. (westfälischen) Armeekorps und dem IV. Kavalleriekorps, die von den Generälen Poniatowski, Reynier, Vandamme und Latour-Maubourg befehligt wurden. Dieses Heer stand in der Erwartung eines russischen Angriffs weit zurück und sollte später gegen Bagration Verwendung finden. Das IX. Korps des Marschalls Victor war noch in der Bildung begriffen. Den linken gegen die Festung Riga bestimmten Flügel bildete Macdonald mit dem X. Korps, zu welchem die Preußen gehörten. Endlich auf dem rechten Flügel des Riesenheeres in der Gegend von Lemberg befehligte Fürst Schwarzenberg die Österreicher.
Am 24. und 25. Juni überschritt Napoleon auf mehreren Brücken bei Kowno den Njemen, den sechs Monate später nur die wenigsten wiedersehen sollten, und rückte in Eilmärschen auf Wilna. Doch die Russen, in deren Mitte der Zar weilte, warteten die Schlacht nicht ab, die ihr sicherer Untergang gewesen wäre, sondern zogen sich noch rechtzeitig zurück und retteten sich vor der drohenden Umklammerung. Nun hoffte Napoleon, wenigstens Bagration abfangen zu können. Davout eilte nach Minsk, um ihn im Osten abzuschneiden; Schwarzenberg näherte sich von Süden, und Jérôme wurde von Westen gegen die zweite Westarmee gehetzt. Allein als er den Befehl erhielt, hatte er noch nicht einmal Grodno erreicht, dann kam er nicht rasch genug vorwärts. Kurz, es gelang Bagration, nach Bobruisk zu entkommen, Napoleons Zorn war groß: Jérôme verließ gekränkt das Heer, nachdem der tüchtige Vandamme ihm bereits den Gehorsam gekündigt hatte und dem unfähigen Junot gewichen war. So endete Napoleons erste groß angelegte Unternehmung mit einem völligen Mißerfolg. Dazu kam, daß infolge der glühenden Hitze und nachfolgender endloser Regengüsse sich die französischen Reihen außerordentlich gelichtet hatten. Die riesigen Entfernungen stellten an die Kräfte der überanstrengten Soldaten unerhörte Anforderungen. Außerdem fehlte es an Verpflegung, weil die Proviantwagen auf den schlechten Wegen den rasch vordringenden Truppen nicht folgen konnten. Auf der Straße nach Wilna waren allein 10.000 Pferde liegen geblieben, auch mußten in dieser Stadt 80 Geschütze zurückgelassen werden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812