Abschnitt. 1

Am Vorabend der Schlacht sammelten sich mehrere meiner Kameraden um mich bei einem sehr frugalen Abendbrot, welches wir aber in der festen Erwartung eines baldigen lukullischen Lebens in dem eroberten Moskau, scherzend über die Einfachheit unsers damaligen Tisches, verzehrten. Es hatte sich auch mein Freund von Poblotzky vom siebenten Infanterie-Regiment eingefunden, wie dies oft geschah, und immer war er ein heiterer, aufgeweckter Gesellschafter und unseren Offizieren ein gerngesehener Gast gewesen. An diesem Abend jedoch war er von einem auffallend düstern und stillen Wesen, was bald auffiel und eine Nachfrage unsererseits veranlaßte. Da sagte er mir, daß er trotz aller Anstrengung seines Geistes eine trübe Vorahnung nicht bewältigen könne, und daß er gewiß glaube, der morgige Tag werde sein letzter sein. Obwohl wir alles anwandten, ihn von dieser Idee abzubringen, und jeder einzelne versuchte, ihn aufzuheitern, gelang uns dies dennoch nicht! er blieb bei seiner Behauptung, nahm auch bald Abschied und bat mich bei seiner Entfernung, ihm, da es doch das letztemal wäre, noch seine Feldflasche zu füllen. Leider betrog ihn seine Ahnung nicht; denn als ich am 8. morgens zum Empfang des Tagesbefehls ritt, wurde mir auf meine Anfrage, wer vom siebenten Regiment geblieben sei, Poblotzky zuerst genannt. Eine Kanonenkugel hatte ihm den Schenkel dicht am Leibe weggerissen, ihn aber nicht gleich getötet; denn er hatte sein Hemd zerrissen, um die Wunde damit möglichst zu verstopfen, dann aber hatte er in der Überzeugung, daß doch alles vergebens sei, seine Zuflucht zur Feldflasche genommen, um sich gegen die fürchterlichen Schmerzen zu betäuben. So hatte ihn einer seiner Freunde, der Leutnant von Wallmoden, dessen wunderbares späteres Schicksal ich gleich hier anführen will, getroffen, und ihn sogleich auf ein Pferd gelegt, um ihn zum Feldlazarett zu schaffen; aber schon nach ein paar Schritten war der Kampf vollendet, sein Geist entflohen. Ich ritt mit Wallmoden zu der Stelle, wo mein armer Freund geblieben, und als ich ihn gefunden, ließ ich ihm ein Grab graben. Dann bestatteten wir ihn und befestigten auf dem Hügel ein kleines hölzernes Kreuz, wofür mir später seine arme Mutter als eifrige Katholikin noch ganz besonders dankte.
Um Wallmodens merkwürdiges Abenteuer zu erzählen, muß ich den Gang meiner Erzählung einstweilen verlassen und eine spätere Epoche erwähnen, in welcher dieser Offizier als Kriegsgefangener in Witebsk in einem Judenhause erkrankt war. Es war in der schrecklichen Kälte im Monat Januar, die Häuser lagen gedrängt voll Kranker, und der Tod forderte viele Opfer, so viele, daß die Karren, welche morgens in den Straßen umherfuhren, um die vor die Tür geworfenen Toten aufzuladen, kaum damit fertig werden konnten. Auch Wallmoden befand sich nach Verlauf einiger Krankheitstage unter jenen Unglücklichen, wurde wie ein Bund Stroh auf den Wagen geworfen, der sich mit seiner traurigen Last vorwärts bewegte, der Düna zu, welche das große Grab für die Bejammernswerten war. Zufällig gingen der Major Stockhausen und Leutnant Krause von der westfälischen Armee hinter diesem Wagen her, auf welchem die Toten bunt untereinander umherlagen, und es fiel ihnen einer auf, welcher, Kopf und Arme herunterhängend, die Straße berührte. Sie sahen genauer hin und glaubten den Leutnant Wallmoden zu erkennen, gingen näher, um sich zu überzeugen, und fanden ihre Vermutung begründet. Da beide die Familie des Verunglückten kannten, so ließen sie von dem Adjutanten sich den Körper verabfolgen, um ihm wenigstens ein anderes Begräbnis zukommen zu lassen. Als sie ihn fortschleppten, begegnete ihnen der Regimentsarzt Starkloff und begleitete sie in ihre Wohnung. Dort stellte er Versuche an, ob Wallmoden auch wirklich tot sei, und der Erfolg war, daß dieser zu sich kam und in besserer Verpflegung nach sehr kurzer Zeit vollkommen genas. In späterer Zeit sagte er oft scherzend zu mir: „Siehst du, was hängen soll, ersäuft nicht!“ Nach dieser kleinen Abschweifung kehre ich zu einer folgerechten Erzählung der Dinge zurück.
Der Verlauf der Schlacht von Moschaisk ist so vielfach besprochen worden, daß ich darüber nur wenig sagen will. Unser Sieg war vollständig, doch zog sich die russische Armee in großer Ordnung auf Moskau zurück; wir folgten ihr auf dem Fuße, fest erwartend, daß es noch heiße Kämpfe setzen würde, und daher mit großer Vorsicht vorrückend. Unsere Vortrupps schlugen sich zwar fortwährend mit der Nachhut der Russen, doch kam es zu keinem ernstlichen Gefecht, da sich die letzteren fortwährend zurückzogen, und endlich hörte auch dies auf, als die Russen durch Moskau selbst zurückgingen, die Stadt preisgaben und sich in südöstlicher Richtung von derselben hinzogen. Die Strapazen und Entbehrungen, mit denen wir unsererseits auf dem Marsche zu kämpfen hatten, wurden nun, so nahe an Moskau, gar nicht mehr beachtet. Die frohe Hoffnung, dort alles zu finden, stählte unsern Mut wie unsere Kräfte, und wollten diese ermatten, so rief man nur den Namen der heißersehnten Stadt einander zu, was eine fast magische Wirkung auf uns hervorbrachte.
Endlich sahen wir, als wir die waldige Anhöhe, der heilige Berg genannt, dicht vor Moskau überschritten hatten, die große majestätische Stadt im Glanz der Morgensonne vor uns liegen! Wie in eine neue Welt schauten wir hernieder, ein lautes Jauchzen durchflog unsere Reihen, man drückte die Hände, man wünschte einander Glück – der Freudenrausch war allgemein. Auch der Kaiser betrachtete von seinem erhöhten Standpunkt aus mit unverkennbarer Freude die vor uns liegende Stadt mit ihren zahllosen Kuppeln und Türmen. Sie bestanden nach Art der chinesischen in weit ausgeschweiften Abteilungen, welche durch Ketten miteinander verbunden waren, und machten eine ganz neue fremdartige Erscheinung aus, Asien und Europa schienen hier verbunden, ein neuer Weltteil uns eröffnet, und unsere Brust hob sich in Freude und Stolz, dieses Ziel trotz ungeheurer Anstrengungen und Beschwerden dennoch endlich erreicht zu haben!
Die Armee machte halt, die Vortrupps gingen in die Stadt, während die Garden vor derselben ihr Lager aufschlugen, und der Kaiser erwartete, daß am kommenden Tage der Magistrat zur Überreichung der Schlüssel der Stadt erscheinen würde, Da dies jedoch nicht geschah, besetzten die Garden die Stadt, während die Linientruppen auf der Straße nach Tarutino hin den weichenden Feind verfolgten. Wie groß war unser Erstaunen, als wir, wie in eine Stadt des Todes einziehend, dieselbe ganz menschenleer fanden, was einen um so grelleren Abstich mit dem Zustande bildete, in welchem wir übrigens alles fanden. Die Läden, die Wohnungen, die öffentlichen Plätze waren ebenso eingerichtet und angefüllt, als sie es in jeder andern großen Stadt sind, und enthielten alles, was die Schaulust befriedigen, die Habsucht reizen kann. Auch fanden sich große Vorräte an Lebensmitteln, namentlich an Kolonialwaren, doch da keine eigentliche geregelte Verwaltung bei der Armee stattfand, fielen sie nur einzelnen zu, die sich förmliche Magazine anlegten und die Schwelgerei aufs Höchste trieben, während vor den Toren von den an allem Mangel leidenden Soldaten Pferdefleisch gegessen ward. An glänzenden nutzlosen Gegenständen war dagegen unglaublicher Überfluß. Die kostbarsten Sachen: persische Schals, prächtige Pelzwerke, goldene und silberne Gefäße sah man, von den Soldaten herbeigeschleppt, in großen Haufen beisammen liegen und dringend für ein Stück Brot angeboten. Prachtvolle Sofas und Stühle waren mitten aus den Plätzen neben Vorräten von Rum, Wein und Likör hingeschoben, auf denen die taumelnden Soldaten sich mit ihren beschmutzten Kleidern umherwarfen. Ich selbst hatte mich mit mehreren Kameraden in einem der leerstehenden Paläste einquartiert, welchen wir durch einige glückliche Streiche, sowie durch Gold, das wir im Überfluß besaßen, bald mit den notwendigsten Lebensbedürfnissen versehen hatten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812