Abschnitt. 1

Wir befanden uns nun auf einem zwischen Moorgrund und Heideland fortlaufenden Damm, welcher so dicht mit Fliehenden angefüllt war, daß man, so weit das Auge reichte, nichts als ein sich fortschiebendes Chaos sah. Schritt vor Schritt bewegte sich diese Masse vorwärts. Manchmal trat ein augenblickliches Stocken ein; doch hielt dies selten lange an und würde vielleicht gar nicht stattgefunden haben, wenn wir verfolgt worden wären, was aber durch die Vernichtung der Brücke unmöglich geworden war. So schoben wir denn in dem allgemeinen Strudel immer mit fort, doch nun überfiel uns ein neuer und fürchterlicher Feind in der am Nachmittag eintretenden Kälte. Der Sturm blies scharf und schneidend, und anhaltendes Schneegestöber trieb in ganzen Wolken kleine, haarscharfe Flocken auf uns ein. Vergebens suchten unsere schon mit Blut unterlaufenen Augen in dieser unwirtbaren Steppe um uns her nach einem Hause, nach irgend einem Schutz gegen dieses fürchterliche Wetter; eine trostlose Fläche dehnte sich vor uns aus, und wir waren beinahe erstarrt. Endlich, als wir den ganzen Tag unaufhörlich gegangen waren, erweiterte sich der Damm zu einem öden, sandigen Landstrich, auf dem kümmerlich etwas Nadelholz wuchs, und wir erreichten einen kleinen Weiler, dessen Häuser aus übereinandergelegten Balken bestanden. Was davon noch stand, wurde sogleich niedergerissen, und unsere erstarrten Hände zogen und schleppten unter größter Anstrengung einige derselben zu den Feuern Früherangekommener. Auf solche Art wurden diese auf jedem Ruhepunkt erhalten, so daß sie sich oft viertelmeilenweit in einer Linie hinzogen, auf beiden Seiten dicht besetzt mit unglücklichen Flüchtlingen.
Natürlich befand sich in diesen Häusern keiner ihrer früheren Einwohner. Diese hatten bei Annäherung der Feinde sich und ihre geringe Habe in den Wäldern geborgen, und so fanden selbst die ersten Flüchtigen keine Speise irgend einer Art. Als wir uns einigermaßen erwärmt hatten, begannen wir unserem kleinen Vorrat verstohlen zuzusprechen; aber lange konnte dieser auch bei der haushälterischsten Einteilung nicht währen, und wie sollte es dann werden auf einem Wege von beinahe vierzig deutschen Meilen?
Wovon ernährte sich überhaupt nur diese in Flucht begriffene Menschenmasse, in deren Mitte wir uns befanden? Ich weiß es nicht; denn jedes Hilfsmittel war auf dem verlassenen jenseitigen Ufer geblieben, wo es, wenn alles fehlte, doch noch Pferde zu schlachten und zu essen gab. Aber hier gab es nichts, gar nichts, und als wir am folgenden Tage bereits an unserem Wege zahllos aufgehäufte Leichen sahen, gab ihr Ansehen Kunde davon, mit welchem Feinde die hier Gefallenen gekämpft. Ihre hohlen eingefallenen Gesichter zeigten, daß Hunger, grimmiger Hunger sich mit den übrigen Entbehrungen und Anstrengungen verbündet hatte, um sie aufzureiben. Zu Hügeln, zu Wällen aufgetürmt, lagen, wenn wir morgens unser Biwak verließen, die Opfer der letzten Nacht beieinander.
In der Frühe des zweiten Tages eilten wir weiter, aber mit sehr geschwächten Kräften; denn der Rest des Schinkens hatte zu unserm Frühstück nur sehr kleine Portionen abgeworfen. Der Sturm blies mit erneuter Heftigkeit, die Kälte war furchtbar und die Verzweiflung ringsumher nicht geeignet, unsern Mut aufrecht zu erhalten. Tote und Lebende, letztere meist in stillem schwermütigem Wahnsinn, niedergesessen auf einen Stein oder eine Erdscholle, mehrten sich auf unserm Weg, und als wir abends schwach, matt und erschöpft vor unserm Feuer niedersanken, wurde auch unter uns mancher hoffnungslos. Am andern Morgen, als ich mich etwas von meinen Kameraden entfernt hatte, erspähte ich einen Mann, welcher einen großen straffen Beutel trug, hinter dem ich so schnell wie möglich her war. Auf meine Frage antwortete der Mensch, daß Mehl in dem Sack enthalten sei, und für reichliches Gold trat er mir die Hälfte des köstlichen Vorrats ab. Triumphierend kehrte ich damit zu meinen verschmachteten Kameraden zurück, die Aussicht auf ein so erquickliches Frühstück stählte aller Kräfte, und schnell ward unser Feldkessel mit Schnee gefüllt, um Suppe darin zu kochen. Eine Patrone diente als Würze, und heißhungrig, wie wir waren, fielen wir, sobald sie fertig war, über dieselbe her; doch wie ward uns, als wir darin eine Menge jener ekelhaften Würmer entdeckten, wie sie sich öfter in altem Mehl finden. Oberstleutnant Schulz vermochte zwar noch über unsere Suppe zu scherzen, indem er sie Seelenkleister taufte, und als das einzige Mittel empfahl, Leib und Seele fein verträglich beieinander zu erhalten; aber obwohl keiner den ihm dargebotenen Teil verschmähte, so konnte man doch nur mit ungeheurer Überwindung diese Suppe und ihre ekelhafte Beimischung hinunterbringen.
Unsere Pferde, die noch immer fortschritten, nährten wir teilweise von wenigem Dachstroh, oder es fanden sich hier und dort auf den am Weg befindlichen Wiesen Heuschober, aus denen wir uns versorgten. Man wird, wenn ich von unserm gräßlichen Mangel erzähle, vielleicht den Einwurf machen, daß wir eins dieser Tiere zu unserm Unterhalt schlachten konnten; aber erstens hätten wir dann unsere Verwundeten nicht fortgebracht, und dann rückten wir von Station zu Station Wilna näher, wo, wie es hieß, wir uns stellen und sammeln würden, und für diesen Fall mußten, um dann gleich dienstfähig zu sein, die Mittel dazu bis auf den äußersten Punkt geschont werden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812