Abschnitt. 2

Am Abend ließ das feindliche Feuer nach, wie wir es vorausgesehen hatten. Die Gärung und der Tumult unter den bedrängten Flüchtlingen legte sich wie das Toben der erregten Wellen, sobald die Stürme schweigen; unsere Hoffnung auf glücklicheren Erfolg ward dadurch wieder neu belebt. In Begleitung eines Kameraden und meines Burschen verließ ich unsern Ruheplatz, um uns umzusehen und danach unsere Operationen einzurichten.
Weit uns zu entfernen wagten wir nicht, doch das Glück wollte uns wohl; denn nach einigen Kreuz- und Querzügen gelangten wir an eine Menge Wagen, deren Untersuchung wir sofort begannen. Die meisten der darin befindlichen Sitzbänke waren leer, doch fanden wir endlich zu unserer unaussprechlichen Freude zwei große geräucherte Schinken, mehrere Pfund Schokolade und einen halben Anker Rotwein. Welcher Fund unter den Umständen, in welchen wir uns befanden! Kein Krösus betrachtete gewiß je seine Schätze mit entzückterem Auge als wir die unsrigen, und kein Schatzgräber ward je in höherem Grade in seinen Hoffnungen befriedigt! Alles Geld in dem nebenstehenden Kassenwagen wog diesen herrlichen Fund nicht auf. Die Fäßchen wurden entzwei geschlagen, und nur, wenn sie Gold enthielten, davon beigesteckt, Silber ließ man gleichgültig auf den Boden fallen, es achtete dies niemand. So bestimmen die Umstände den Wert der Güter dieser Welt! Ehe wir aber unsere Goldgrube verließen, füllten auch wir, nach dem Beispiel unserer Vorgänger, unsere Taschen bis an den Rand mit dem edlen Metall, und wenn die habgierigen Plünderer später auch beinahe alles an sich rissen, so hat mir doch das wenige, was ich davon gerettet, das Leben gefristet in dem Augenblick, als die Not und Bedürftigkeit den höchsten Grad erreicht hatte.
Beladen mit unsern Schätzen kehrten wir zu unsern harrenden Kameraden zurück, die uns mit lautem Jubel empfingen und unser gutes Glück wie unsere Geschicklichkeit nicht genug preisen konnten. Wie der Soldat in der Freude der Gegenwart nur zu leicht auch die grauseste Vergangenheit vergißt, so auch hier. Unsere Feldkessel wurden in so freudiger Eile mit dem herrlichen Rotwein gefüllt, als es nur unter den gefahrlosesten Umständen hätte geschehen können. Dann ließen wir die Schokolade darin zu einem dicken Brei einkochen, und an diesem Göttermahl erquickten sich General wie Gemeiner mit gleichem Recht und gleichem Appetit. Mit dem Schinken jedoch wurde haushälterischer umgegangen; denn nachdem wir davon genossen, ward er eingepackt und über eines meiner Reitpferde geworfen, wie denn gleich beschlossen wurde, daß nur in Zeiten der höchsten Not zu demselben Zuflucht genommen werden sollte.
Mit erheitertem Geist und erneuertem Lebensmut begannen wir nach diesem stärkenden Mal Kriegsrat zu halten, in welchem wir verabredeten, wie wir unsere Verwundeten und uns selbst hinüberbringen wollten. Dann begannen wir unsere Toilette zu machen, die ich spaßeshalber hier beschreiben muß, da wir nach derselben eher wandelnden Kleidermagazinen als unsern eigenen Personen glichen. Über zwei Paar seinen Nanking-Beinkleidern folgten die reichgestickten Paradehosen sowie die goldgestickte Scharlachweste, über die wiederum unsere grünen, an den Seiten zugeknöpften und sehr hoch hinaufgehenden Reithosen gezogen wurden, dann die Staatsuniform mit Epauletts und Achselschnüren, ein Überrock, ein Mantel, und über dies alles endlich ein russischer Pelz! Als wir so weit gekommen waren, verließen wir auf wenige Schritte unsern Schutzort, um auszukundschaften.
Eine tiefe Stille herrschte nun – es mochte Mitternacht sein – auf dem kürzlich so belebten Raum, auf welchem vor wenigen Stunden die Hölle selbst gewaltet und losgelassen zu sein schien. Jetzt war die Ruhe nur unterbrochen von dem Geächze sterbender oder zertretener Menschen oder dem noch grauenvoller tönenden Gestöhn zerschmetterter Pferde. Oberstleutnant Schulz hatte sich weiter von uns entfernt, als wir auf einmal seine Stimme hörten, wie er jemand anrief, in dessen Begleitung er bald darauf zu uns trat. Es war dies ein französischer Artillerieleutnant namens Leroi, der zu der Zeit, als wir in Moskau standen, bei seinem Durchmarsch durch Moschaisk einige Freundschaftsdienste von Schulz empfangen hatte, die nun unsere Rettung bewirken sollten. Leroi teilte uns mit, daß er mit zwei Geschützen zurückgeblieben sei und bis zu diesem Augenblick weitere Befehle erwartet habe. Doch da diese nicht angekommen, wolle er die Kanonen auf eigene Gefahr hinüberzubringen versuchen. Er versprach, unsern großen Wagen mit den Verwundeten zwischen die Geschütze zu nehmen; Leutnant Brand, welcher sich allein auf meinem kleinen Wagen befand, ward auf den Bock des großen gesetzt, mein Bursche, ein gewandter Mensch, schaltete zwei meiner besten Pferde aus eigener Machtvollkommenheit ein, und so bewegte sich der Zug vorwärts. Welche Hindernisse wir zu besiegen hatten, ehe wir die Brücke erreichten, und durch welches Labyrinth von Menschen, Trümmern und Pferden wir uns durcharbeiten mußten, kann man nach der Zeit berechnen, die wir darauf verwandten; denn als wir zugleich mit einer großen Anzahl von Flüchtlingen, aber, da die Geschütze noch bedient waren, immer beschützt von den wachthabenden Gendarmen, bei der Brücke anlangten, war es 2 Uhr. Nur noch kurze Zeit, und wir waren verloren, denn nach wenigen Stunden ward die Brücke angezündet.
Mit welchen Gefühlen betraten wir nun dieselbe, die an dem verwichenen Tage der Schauplatz so vieler Greuelszenen gewesen! Wie viele Unglückliche waren, als sie voll Hoffnung auf Errettung die Brücke betraten, von dem schmalen, schrankenlosen Raum hinabgedrängt worden in die eistreibenden Fluten der Beresina! Gott sei es gedankt, uns wurde der Schmerz erspart, Zeuge und Miturheber solcher Jammerszenen zu sein; denn vergleichungsweise waren es um diese Zeit wenige, die übergingen, und wenn man sich auch nach und vor unsern Geschützen drängte, so geschah es doch nicht im Übermaß. Wir selbst schritten schweigend, aber von neuer Hoffnung belebt neben unserm Wagen her. Dieser Übergang schien uns der in ein neues, wiedergeschenktes Leben, in welchem, so glaubten wir, unsere Leiden sich vermindern und eine Verbesserung unserer Lage durch Willenskraft und Tat herbeizuführen sein müßte! Und wie glücklich waren wir, daß damals diese Hoffnung unsere Kräfte stählte; hätten wir eine Ahnung gehabt von den unsäglichen Leiden, Entbehrungen und Qualen, die unserer warteten, wie sehr wäre unsere physische und moralische Kraft herabgestimmt worden!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812