Abschnitt. 1

Auf einmal ereilte uns, wie ein Blitz aus heiteren Höhen, die Nachricht von dem beschlossenen Rückzug, (Nach der Schlacht bei Malo-Jaroslawetz) und dieser Nachricht folgte die Ausführung so rasch auf dem Fuße, daß, ehe wir es uns versahen, der Generalstab des Kaisers eintraf und vor unserm schönen Quartiere „ place, place“ rief. Wir mußten unsere glänzenden Wohnungen gegen ein elendes Biwak vertauschen, und schon am folgenden Morgen wurde in gejagter Eile der Rückzug angetreten.
Wir hatten uns mit möglichstem Proviant versehen; es fehlte uns nicht an gesalzenem Fleisch und Branntwein, und ich selbst hatte dessen in meinem Wagen genug, in welchem sich außerdem noch einer meiner bei Moschaisk verwundeten Kameraden, der Leutnant Brand, befand. Die Korps, d. h. die Reste derselben, marschierten noch in aller Ordnung; denn ihre und unsere Hoffnung beruhte auf Smolensk, welches, wie uns verheißen war, einen Ruhepunkt bilden sollte.
Als wir am 26. in die Nähe des Schlachtfeldes von Moschaisk gelangten, konnten wir nicht die gewöhnliche Straße passieren, sondern mußten einen Umweg machen, um die fürchterlichen Pestgerüche zu vermeiden, die der Wind uns von dorther zuführte. Das wird erklärlich, wenn man erfährt, daß die 40.000 Opfer jenes blutigen Tages sowie eine Masse getöteter Pferde noch unbeerdigt umherlagen. Auf dem Schlachtfelde waren gegen tausend unserer Pulverkarren, zu welchen wir keine Pferde mehr hatten, aufgefahren, und so wurde uns denn hier das erste grausige und betrübende, aber dennoch großartige Schauspiel zuteil, dieselben in die Luft gesprengt zu sehen. Mit donnerndem Getöse flogen sie in die Höhe, worauf die ganze Gegend für lange Zeit in tiefen undurchdringlichen Dunst eingehüllt blieb. Von der Verfolgung der Feinde wurden wir nichts gewahr, da wir zu weit voraus waren; doch hatten wir schon bedeutend von dem uns immer mehr überfallenden Winter zu leiden, so wie unsere mitgenommenen Vorräte mittlerweile auch hingeschmolzen waren.
Unsere Hoffnung stand demnach auf Smolensk, doch bestätigte sich diese leider nicht, da wir bei unserer Ankunft die Tore geschlossen fanden. Sie wurden nur für diejenigen Korps geöffnet, welche noch in geschlossenen Reihen marschierten, was bei uns schon nicht mehr der Fall war. Lebensmittel, auf die wir namentlich gehofft, empfingen wir also hier nicht; die Umgebung von Smolensk war total verwüstet.
Es warf sich nunmehr alles auf die Straße nach Orsza. Bei diesem Städtchen befand sich ein Übergang über den Dnjepr. Aber jetzt nahm die Demoralisation in erschreckender Weise mit dem steigenden Elend überhand. Alles lief so schnell wie es laufen konnte, um der Gefahr zu entgehen, die aus Kutusows Feuerschlünden drohte, welcher sich neben der Straße aufgestellt hatte, um unsere rechte Flanke zu umgehen. Der Kaiser, welcher mit einem Teil der Garde schon voraus war, machte kehrt, führte seine alten erprobten Krieger unter Bessières dem bedrohten Davout zu Hilfe und brachte Kutusow zum Weichen, so daß die nachfolgenden Korps Raum gewannen, doch ward leider Ney mit der Nachhut abgeschnitten.
So marschierten wir immer weiter: mit jedem Tage schwand uns der Mut mehr, und wenn wir abends uns beim Biwak niederließen, so konnten wir nur in Vermutungen uns ergehen, wie lange es bis zu unserm völligen Untergang noch dauern würde; denn daß es für uns keine Rettung gab, schlossen wir aus dem völligen Mangel an Lebensmitteln, aus der vollkommenen Kenntnis der schon einmal durchzogenen Straße und tausend andern Dingen, zu denen sich ein dunkles Gerücht gesellte, daß die Türken Frieden geschlossen und die dadurch verfügbare Armeeabteilung der Russen uns unsern Weg im Westen abschneiden wolle. Bei Orsza wurde der Rest der Armee gesammelt; wir ruhten einen Tag, doch waren alle sehr besorgt um das Schicksal Neys, von dem man seit dem letzten Gefecht nur gehört hatte, daß er abgeschnitten sei. Es war jedoch, wie man weiß, diesem klugen General gelungen, sich nach übermäßigen Anstrengungen und einer fast übermenschlichen Ausdauer wieder mit den übrigen Korps zu vereinigen; zu uns kam die Nachricht davon nach Verlauf zweier Tage, und jeder empfing sie mit gleicher Freude, indem einer dem andern zurief: Ney ist wieder da!
Wir passierten den Dnjepr, der stark mit Eisschollen ging, und als wir in unserm Elend so dahinschritten, hungrig und ermattet über die Maßen, hieß es auf einmal: da sind die Kosaken, die Kosaken! Diese Ankündigung hatte immer die Folge, daß wir in großen Knäueln zusammengedrängt wurden, und ich befand mich bald in dem dichtesten Gewühl, als auf einmal ein köstlicher Geruch von langentbehrter Bouillon in meine Nase drang. Sofort erblickte ich eine Marketenderin, auf einem elenden Pferde reitend, die an ihrer Seite einen noch warmen Feldkessel hängen hatte, aus welchem jene herrlichen Düfte emporstiegen. Ich drängte mich so dicht wie möglich an sie heran, bis ich so glücklich war, den Topf zu erreichen, aus dessen qualmendem Inhalt ich, natürlich mit bloßen Fingern, ein Stück gekochtes Fleisch erangelte, dem bald eine Kartoffel und endlich alles folgte, was ich mit diesen, für einen Europäer so unvollkommenen Hilfsmitteln mir zu eigen machen konnte. Darauf ließ ich mich sachte zurückdrängen, um den Zorn, welcher der Entdeckung folgen mußte, nicht auf mich zu laden. Was für Augen wird aber die Arme gemacht haben, als sie ihren teuren Topf revidierte!
Weit davon entfernt damals, das Unstatthafte meiner Selbstbewirtung von den Einflüsterungen meines Gewissens oder den Ansprüchen der Moral ergriffen zu sehen, fühlte ich mich im Gegenteile unendlich durch meine köstliche Mahlzeit gestärkt, eine Kräftigung, die gelegentlicher nicht kommen konnte, da es bis Borisow nichts der Art mehr gab. Da diese Stadt vollkommen wohl erhalten war, ihre Einwohner dieselbe nicht verlassen hatten, auch ein französischer Gouverneur sich dort befand, welcher die Magazine in trefflichem Zustande erhalten hatte, so hofften wir dort einen Ruhepunkt zu finden; aber auch hier wurden unsere Hoffnungen wieder getäuscht. Die in den Magazinen vorhandenen Zwiebäcke und sonstigen Lebensmittel hatten die vorausgegangenen Garden bereits an sich genommen, und wir erhielten hier abermals nichts, als von unserm General Alix den Befehl, so schnell wie möglich den Garden zu folgen, welche ihre Biwaks an den Ufern der Beresina aufgeschlagen hatten. Mein Bursche, ein anhänglicher, treuer Mensch, welcher sich standhaft zu meiner Person hielt, verschaffte mir ein Brot von denen, die in Massen aus einem kleinen Fenster eines Klosters ausgegeben wurden, und dies war der ganze Vorrat, den ich mit mir nahm und um welchen hundert andere mich noch beneideten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812