Abschnitt. 4

Als unsere Gegner sahen, daß wir, statt uns zu ergeben, Vorbereitungen zur Verteidigung trafen, erscholl der Befehl zum Angreifen. Zuerst umschwärmten mich die irregulären Kosaken, doch etliche Flintenschüsse reichten hin, diese feige Bande in gehöriger Entfernung zu halten. Der Landsturm zu Fuß wagte kaum vorzurücken, man hatte dort den nämlichen Respekt vor regelmäßigem Infanteriefeuer, nur die Dragoner standen mir fest gegenüber und machten auch mehrere Schwarm-Attacken. Mehrere meiner Leute, leider unter ihnen mein armer Lippe, wurden durch Karabinerschüsse verwundet, – doch stand unser Verlust mit dem unserer Gegner in gar keinem Verhältnis: sie litten bedeutend, was die Wut ihres Anführers auf die höchste Spitze trieb. Immer heftiger feuerte er seine zurückweichenden Trupps zu fernerem Angriff an, meine Lage wurde immer kritischer. Da ergriff ich, mit Widerstreben, das letzte Hilfsmittel – nicht ohne peinlichen Kampf mit mir selber, – ich bot einige Goldstücke demjenigen, welchem es gelingen würde, den feindlichen Anführer vom Pferde zu schießen, überzeugt, daß mit seinem Fall die Wut des Angriffs nachlassen würde, und diese Berechnung war nur zu richtig. Ein paar Minuten reichten hin – die wohlgezielten Schüsse taten ihre Wirkung – der schöne Russe sank auf dem Pferde zusammen! Kaum bemerkten seine Untergebenen seine Verwundung, als sich auch alles in einem dichten Schwarm um ihn sammelte und mit ihm dem Walde zuzueilen suchte. Dieser Moment wurde benutzt: ein scharfes Feuer der Plänkler und der Reserven in diesen unregelmäßigen Klumpen hatte Wirkung, er stob auseinander: die Dragoner zogen sich ebenfalls in den Wald zurück.
Nun ließ ich schnell aufbrechen. Alles lag jetzt daran, bei dem eintretenden Abend eine sichere Aufstellung zu finden. Mit wenigen Leuten ritt ich in geringer Entfernung den übrigen voraus und ließ, da die Nacht bereits eingebrochen war, auf einer kleinen Erhöhung abermals eine Wagenburg bilden. In Eile wurde aus einem benachbarten Bache getränkt und die Feldkessel gefüllt, und dann von den Ecken des Karrees aus Doppelposten auf dem Boden liegend angeordnet, kurz, jede Maßregel getroffen, um gesichert zu sein. So mußte ich mein Schicksal erwarten; Patrouillen auszuschicken wäre Unsinn gewesen, sie wären nur unnötig geopfert worden, da ich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht allein beobachtet, sondern auch von neuem aufgegriffen zu werden erwarten mußte. Ebenso würde ich gegen alle Vorsicht gehandelt haben, wenn ich hätte Feuer anmachen lassen, da dies nicht allein unsere Stellung verraten, sondern auch dem feindlichen Schusse ein sicheres Ziel verschafft haben würde. Den dritten Teil meiner Leute ließ ich abwechselnd ruhen, die andern stets im verteidigungsfähigen Zustand bleiben: doch überzeugte ich mich bald, daß nur sehr wenige sich dem Schlaf überließen, die Spannung war zu groß, die Ruhe floh uns alle. Ich für meine Person, verantwortlich für das Leben so vieler, wurde außerdem noch durch die fortwährenden Meldungen wach erhalten und dadurch veranlaßt, selbst den Grund oder Ungrund derselben zu untersuchen. Mein armer Lippe konnte mich dabei nicht unterstützen, da er, durch eine Kugel am Bein verwundet, schwer leidend auf einem Wagen lag, und doch hätte ich seiner Unterstützung wohl bedurft; denn bald wollten die verschiedenen Posten hier oder dort eine verdächtige Bewegung bemerkt, bald von jener Seite auffallendes Geräusch gehört haben. Mitternacht war längst vorüber, und gegen meine Erwartung war ich noch nicht gefährdet worden; aber das uns bekannte System der Russen in jener Zeit, selten oder nie die Nacht zu kriegerischen Operationen zu benutzen, bewährte sich auch hier. Man konnte immer nur kurz vor Anbruch des Tages mit Bestimmtheit auf irgend einen Angriff rechnen. Jedenfalls mußte der Fall des feindlichen Anführers einen regelmäßigen Plan zerstört haben, sonst wäre es mir unerklärlich geblieben, daß ich die Nacht in einer solchen ungünstigen Aufstellung so ruhig hätte zubringen können. Und dann hatte den rohen Haufen auch die schon oftmals erwähnte Abneigung, gegen Schießwaffen zu fechten, verscheucht. Dies erklärt sich dadurch leicht, daß die Landleute als Leibeigene keine derartige Waffe führen durften. Daher war ihnen der Gebrauch derselben sowie deren Wirkung fremd und unbekannt und flößte ihnen einen heillosen Schrecken ein. Als kleinen Beleg für diese Behauptung erzähle ich hier einen Vorfall, der sich wirklich zugetragen hat. Ein Hoboist der französischen großen Armee hatte sich auf dem Rückzuge in einem seitwärts liegenden Dorfe so verspätet, daß er, obwohl es schon heller Tag war, dennoch versuchen wollte, die auf der großen Straße sich bewegende Armee zu erreichen. Plötzlich wurde er von vier bis fünf Kosaken, ebenfalls Landsturm, angegriffen. Mit kaltem Blute brach er das Mundstück seines Instruments, eines Fagotts, ab, postierte sich in einen Graben und zielte auf seine Gegner; im Nu machten diese kehrt, und unser Hoboist erreichte glücklich die Straße.
Morgens 3 Uhr, nachdem ich etliche Schleichpatrouillen in der Richtung meines ferneren Weges geschickt hatte und nichts Verdächtiges gemeldet wurde, brach ich möglichst stille auf, immer in der Erwartung, auf den Feind zu stoßen und in dieser Voraussetzung mit dem zunehmenden Tage meine Aufmerksamkeit vergrößernd. Doch schon waren wir beinahe eine Meile vorwärts gekommen, nichts Verdächtiges hatte sich gezeigt; schon begann ich freier zu atmen, als ich von der Vorhut her die Meldung erhielt, daß in einem vor uns liegenden Dorfe Bewegungen bemerkt wurden, die unbezweifelt auf militärische Besatzung desselben hindeuteten. Natürlich konnte ich nur glauben, daß mir während der Nacht der Rückzug vom Feinde abgeschnitten worden sei. Eine Besichtigung war unter diesen Umständen unerläßlich. So ging ich denn mit meinen berittenen Leuten und der Hälfte der Infanterie vor, um, auf jeden Ausgang gefaßt, Gewißheit unsers Schicksals zu erlangen. Einem Unteroffizier hatte ich die näheren Verhaltungsbefehle in bezug auf den Transport sowie der nötigen Signale hinterlassen. An der Spitze meiner Abteilung kam ich in tiefster Stille in die Nähe des Dorfes und – hier endeten meine Besorgnisse, wie die Erzählung meines kleinen Abenteuers; denn mit unbeschreiblicher Freude hörte ich an den Ausrufen, die in italienischer Sprache mir zu Ohren drangen, daß wir, statt auf Feinde zu stoßen, Verbündete vor uns hatten. Rasch ritt ich mit einer kleinen Bedeckung vor, wodurch ein gewaltiger Lärm bei dem italienischen Detachement entstand, da sie ebenfalls einen feindlichen Überfall befürchteten. Gegenseitig wurden wir auf die angenehmste Weise enttäuscht, und da die kleine Abteilung ebenfalls auf Beute ausging, nahm ich mir nur Zeit, ihrem Anführer Glück zu seiner Unternehmung zu wünschen und kameradschaftlich ihm einen Teil meiner Vorräte abzulassen, worauf ich mit meinen Leuten vorwärts eilte und gegen Abend den glücklichem Erfolg meines Auftrages meinem General melden konnte. Er bezeugte mir seine Zufriedenheit, da die mitgebrachten Vorräte wirklich bedeutend waren und nur in den Weinflaschen eine ansehnliche Verringerung eingetreten war.
Als ich mich dem Biwak meines Regiments genähert hatte, hörte ich schon in weiter Entfernung Kanonendonner, der jedoch bald verstummte, und bei meiner Ankunft erfuhr ich, daß von uns zwei vorspringende russische Feldschanzen genommen seien. Auch eine andere Neuigkeit erwartete mich: Napoleon hatte durch eine Proklamation die Schlacht zum 7. September angekündigt, und da ich am fünften abends zu meinem Regimente zurückkehrte, fand ich bis dahin genug zu tun, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812