Abschnitt. 3

Gegen 11 Uhr abends, nachdem ich einer flüchtigen Ruhe genossen hatte, kam Lippe mit der Meldung, daß sich in der Nähe verdächtige Bewegungen zeigten. In dem naheliegenden Walde hinter den Höhen wurden kleine Trupps bemerkt, auch Bewegungen von Pferden gehört. Als ich eben im Begriff stand selbst hinauszugehen, um das Nötige anzuordnen, erschien still und heimlich mein Verwalter. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß wir uns allein befänden und er sich also keiner Gefahr durch Verrat seiner Mitteilungen aussetze, sagte er: „Ich komme, Sie zu warnen, mein Herr Offizier! Sie sind mein Landsmann, Sie haben nur getan, was Sie mußten, und unterlassen, was Sie ungestraft hätten tun dürfen. Ich erkenne das mit dem lebhaftesten Dank an, darum teile ich Ihnen mit, daß der Fanatismus meiner Untergebenen Ihnen und Ihren Leuten den Untergang bereiten wird. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen, nehmen Sie diese Warnung von einem deutschen Landsmann an, bedenken Sie aber auch, daß ich Rußlands Brot esse und nicht weiter gehen darf.“ Sofort nahm ich etliche Infanteristen, patrouillierte und fand sowohl Lippes Meldung bestätigt, als auch Grund für die Warnung des Inspektors. Mit wenigen Leuten schlich ich an einem mit Buschwerk bewachsenen Bach entlang und näherte mich dem naheliegenden Walde. Nach kurzem Lauern bemerkte ich deutlich größere Trupps, jedoch ohne das dem erfahrenen Soldaten bemerkbare Glitzern von Schießwaffen. Ich konnte daraus leicht folgern, daß unsere Gegner mit den uns schon bekannten Piken bewaffnet sein mochten, und fand mich allerdings für den Augenblick beruhigt. So leise, wie ich vorgeschritten war, ging ich auch wieder zurück, weckte in aller Stille meine übrige Mannschaft und ließ anspannen, da ich vorsichtigerweise schon früher die Wagen hatte beladen lassen. Bei dem auf meinem Rückzuge als bestimmt anzunehmenden Widerstand war mein erstes Augenmerk darauf gerichtet, so viel Leute wie nur irgend möglich für den Kampf frei zu haben. Deshalb mußten von der Infanterie die gewandtesten Leute ein jeder vier Wagen führen, indem sie, auf dem ersten sitzend, die Pferde der folgenden Fahrzeuge an den vorausfahrenden Wagen befestigten, wodurch ich bedeutend an meinen Streitkräften gewann.
Auf diese Weise konnten im Notfall drei Viertel der zu den Wagen kommandierten Mannschaften dem Feinde entgegentreten. Ebenso hatte ich die in allen Verhältnissen nötige Bildung einer Wagenburg vorläufig angeordnet, und vervollkommnete sie während des Marsches am folgenden Tage. So vorbereitet ließ ich um 3 Uhr, weit vor Sonnenaufgang, eine verhältnismäßig starke Vorhut aufbrechen, welcher ich die Richtung, die unser Rückzug nehmen mußte, nur oberflächlich angeben konnte, da mir sowohl Boten als genaue Kenntnis der Gegend fehlten. Es blieb mir demnach nur der Versuch übrig, sobald wie möglich die große Straße zu erreichen, wo ich hoffen konnte, Unterstützung oder Sicherheit zu finden. Ich selbst blieb bis Tagesanbruch mit meiner stärkeren Nachhut in größerer Entfernung zurück. Nach unserm Übergang ließ ich die Brücke über den schon oben erwähnten Bach, welcher etwa 5 bis 6 Meter breit war, abwerfen. Überhaupt suchte ich den Verfolgern so viel Hindernisse wie nur irgend möglich in den Weg zu werfen, und hatte auch die Freude, gegen anderthalb Meilen meinem Ziele näher gekommen zu sein. Doch plötzlich änderte sich die Szene.
Unser Weg führte durch ein Dorf in der Ebene. Als wir uns näherten, wurde meine Vorhut aus den ersten Häusern mit Flintenschüssen empfangen, und dieser voreilige Angriff war abermals mein Glück! Hätte der Gegner mich mit meiner Kolonne bis in die Mitte des Dorfes kommen lassen und mich dann mit der Übermacht, die ich nur zu bald kennen lernen sollte, angegriffen, so unterliegt es keinem Zweifel, daß wir alle gänzlich verloren gewesen wären. So aber wurde ich durch das, was mein Verderben sein sollte, gewarnt. Schnell ließ ich etliche Kavallerie-Plänkler vorrücken, um seitwärts das Dorf zu umgehen; ich selbst bog mit dem übrigen Trupp querfeldein, ließ die in der dortigen Gegend üblichen Einzäunungen zerhauen, und gelangte so auf die jenseitigen Ebenen, immer mich möglichst von den Gebäuden und dem Rande des Waldes entfernt haltend. Auf dieser Fläche sammelte ich meine ganze Abteilung, ordnete die Stellung der Wagen so, daß schnell ein Karree gebildet werden konnte, und ließ dann Menschen und Pferde ein wenig rasten.
Eben als ich mich nach kurzem Aufenthalt wieder in Marsch setzen wollte, wurde mir die Größe der Gefahr, in welcher ich schwebte, durch eine neue Erscheinung außer Zweifel gestellt. Aus der links vorspringenden Waldspitze rückten im Trabe etwa sechzig bis siebzig reguläre Dragoner vor – daß sie reguläre Truppen waren, zeigte ihr Manöver, – aus allen Ecken drängten, wie aus dem Boden gewachsen, bärtige Russen mit Piken bewaffnet nach, und mir gerade gegenüber erblickte ich einen schönen Mann in russischer Nationaltracht, der, seiner Kleidung und Haltung nach zu urteilen, der Anführer unserer Feinde sein mußte. Dieser Mann war außerordentlich schön beritten und umgeben von einem Schwarm Landkosaken, die auf seinen Ruf in Schußweite von uns halt machten, hierauf sprengte er etwas vor und redete uns erst in französischer und auf die Antwort, daß wir Deutsche seien, fertig in unserer Sprache an. Er forderte uns auf, die Waffen niederzulegen, versprach uns, da wir Deutsche seien, eine gute Behandlung und setzte hinzu, daß er recht gut wisse, wie wir nur gezwungen unsere Waffen gegen die Russen richteten, und was der Reden mehr waren. Diese verführerische Aufforderung, angesichts so augenscheinlicher Gefahr des Unterliegens, war von der größten Bedeutung für meine Expedition. Ich bemerkte, daß mehrere meiner Leute schwankten, obwohl ich ihnen mein Wort gab, daß der Augenblick ihres Übertritts auch der ihres Todes sein würde; denn ich wußte nur zu wohl, daß an Pardon von seiten des russischen Landsturms nicht zu denken wäre. Ihnen galt es gleich, ob ihr Feind Deutscher oder Franzose war: jeder fremde Krieger hieß „Franzus“, und solchem war der Tod unwiderruflich geschworen. Auf obige Aufforderung erfolgte die Erklärung von meiner Seite, daß es mein fester Entschluß sei, mich, nicht zu ergeben.
Dennoch bewilligte mein Gegner eine Viertelstunde Bedenkzeit, die ich dazu benutzte, meine Leute aufzufordern, alle ihre Kräfte an unsere Befreiung zu setzen. Ich sprach ihnen meine feste Überzeugung aus, daß unser Untergang gewiß sei, wenn wir das Unglück hätten, in die Hände der Russen zu fallen, und daß wir also lieber vereint bis auf den letzten Mann fechten und mit den Waffen in der Hand sterben wollten. Außerdem hatten wir keine Infanterie gegen uns, und gegen Kavallerie konnte ich mich, wenn meine Leute aushielten, wohl verteidigen.
Ein trauriger Umstand kam meiner Bedrängnis zustatten und sprach beredter für die Wahrheit meiner Behauptung, als ich es durch weiteres Zureden vermocht hätte. Ein Sergeant von meiner Infanterie, namens Koch, wie ich nachträglich erfuhr, schon immer als ein Feigling bekannt, war unterdessen unter einem Wagen durchgekrochen und lief zu dem russischen Haufen über. Zu seinem Unglück traf er auf Landsturm und im nämlichen Augenblick, indem wir seine Flucht bemerkten, war er von Piken durchbohrt und mit Knüppeln erschlagen. Tiefes schreckliche Ereignis geschah vor unseren Augen. Ich brauchte um die größte Kraftanstrengung meiner Untergebenen nicht mehr besorgt zu sein. Von allen Seiten erhielt ich die laute einstimmige Versicherung, unbedingt bei mir aushalten und meine Befehle aufs pünktlichste vollziehen zu wollen. Die kurze mir noch übrige Zeit benutzte ich, meine Infanteristen hinter den im Viereck aufgestellten Wagen so zu postieren, daß sie, selbst gedeckt, von allen Seiten freien Schuß hatten, – in der Mitte stand die Reserve und die abgesessenen Kavalleristen in üblicher Art. So vorbereitet, ließ ich schnell zur Stärkung einige Flaschen Wein die Runde machen die vortreffliche Wirkung taten und nicht geschont wurden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812