Abschnitt. 1

Unser glänzendes Residenzleben in Cassel ward im Frühjahr des Jahres 1812 durch Gerüchte von dem Wiederbeginn des Krieges unterbrochen, und bald wurden sie durch die Nachricht bestätigt, daß der Kaiser Napoleon den Krieg an Rußland erklärt habe, wir also als seine natürliche Bundesgenossen daran teilnehmen würden. Im März avancierte ich zum Rittmeister. Unsere Armee wurde zusammengezogen, und bald darauf marschierten wir durch die Lausitz über Groß-Glogau nach Warschau. Dort fand die Organisation der großen Armee statt, wobei wir als achtes Korps unter dem Befehl des Generals Vandamme standen. Unser Regiment wurde in Praga einquartiert, und ich erhielt meine Wohnung bei einer alten Starostin, welche mit ihrer Dienerschaft ein eigenes, hübsches, kleines Haus bewohnte und eine sehr liebenswürdige Wirtin war. An den schönen Frühlingsabenden traf ich mich mit mehreren meiner Kameraden in ihrem kleinen Gärtchen, wo auch sie sich oft befand. Wir sprachen dann über unsern Marsch und unsere fernere Bestimmung, von welcher sie nicht viel Gutes für uns erwartete. Vielmehr prophezeite sie uns, daß wir unsern Untergang in Rußland finden würden, eine Vorhersagung, die sich nicht schlimmer erfüllen konnte, als es geschehen. Von Warschau ausging für uns ein eigentliches Nomadenleben an. Wir kamen nicht mehr in Quartiere; denn die wenigen, die sich vorfanden, wurden für die Generale in Beschlag genommen. Auch waren die Truppenmassen zu groß im Vergleich zu dem wenig bevölkerten Land, so daß wir, mit seltenen Ausnahmen, während sieben Monate im Biwak blieben. Die Verpflegung war daher auch sehr schlecht, schon in Warschau fütterten wir grün, dadurch litten natürlich unsere Pferde sehr, und wir verloren von Tag zu Tag.
Am 24. Juni überschritten wir den Njemen, und der Mangel an Lebensmitteln und Futter vergrößerte sich mit jeder Strecke, die wir tiefer in Rußland eindrangen; es entstand daher das System der Selbstverpflegung, das schädlichste für Freund und Feind.
Beinahe jedes Regiment bestimmte einzelne Kommandos zur Herbeischaffung des Nötigen, und ich wurde fast immer zum Führer dieser Abteilungen von seiten unseres Regiments ernannt. So gefährlich und mühsam dieser Zweig des Dienstes nun auch war, so führte ich doch immer ein besseres Leben als meine Kameraden, die in geschlossenen Korps marschierten. Man erhielt zu solchen Kommandos eine Anzahl Mannschaften und eine offene untersiegelte Ordre, welche den Zweck der Detachierung enthielt, und war danach sich selbst überlassen. An Landkarten gebrach es uns durchaus, Wegweiser waren selten zu finden, und man wählte daher den ersten besten befahrenen Seitenweg, der zu einem Dorf oder Pachthof zu führen verhieß. Immer aber mußte man sich solchen Orten mit großer Vorsicht nähern; denn gewöhnlich entflohen die Bewohner derselben bei unserer Annäherung und hielten sich dann in den Wäldern versteckt. Zuerst suchte man bei solchen Gelegenheiten Wagen und Pferde zu erhalten, da wir auch diese nicht mitbekamen. Dann suchte man einige Leute beritten zu machen, um eine kleine Kavallerie zum Patrouillieren und Vortrab zu bilden, von den übrigen Leuten war ein Teil zu Fuhrleuten bestimmt. War man dann so glücklich, etwas Bedeutendes zusammenzubringen, so mußte man aufs Geratewohl dem Korps nacheilen, und es wieder zu erreichen suchen. Auf diesen Streifzügen leistete mir ein kleiner Schornsteinfegerjunge die wichtigsten Dienste. Er war in Polen lange Zeit neben meinem Wagen hergelaufen und hatte mich flehentlich gebeten, mich seiner anzunehmen, da er einem sehr bösen Herrn entlaufen sei. Ich hatte ihn damals mitgenommen, ihn als Bedienten im nächsten Städtchen eingekleidet, und seine Treue und Anhänglichkeit an meine Person hat mich diesen Akt des Mitleids nie bereuen lassen. Der Junge sprach vortrefflich polnisch, auch etwas russisch, was mir bedeutende Vorteile gewährte; er war mir immer zur Seite, litt nicht, daß mich ein anderer bediente und folgte mir nicht allein bis Moskau, sondern auch wieder zurück; aber leider kam er mir auf dem Rückzuge abhanden, und ich habe nie wieder von ihm gehört.
In der vorbeschriebenen Art bewegte sich der Zug bis Orsza, der Verlust an Menschen und Pferden dauerte fort, und namentlich schmolz die Kavallerie und Artillerie immer mehr zusammen. Eine große Masse Pulverwagen blieb aus Mangel an Pferden schon hier stehen, und bei dem Gros der Armee fehlte es so sehr an Lebensmitteln, daß hier schon angefangen wurde, Pferdefleisch zu essen; an Branntwein herrschte gänzlicher Mangel. Die Schlacht von Witebsk, persönlich vom Kaiser geleitet, wurde bekanntlich gewonnen, und nach derselben konzentrierte sich die Armee bei Orsza, wo sie ebenfalls unter Leitung des Kaisers den Dnjepr passierte. Darauf marschierte sie nach Smolensk, das am 17. August gestürmt wurde. Der Kampf war lebhaft und lange unentschieden. Nachdem die Oberstadt des Nachts von den Russen geräumt war, stritt man sich sehr heftig um den Besitz der jenseits des Dnjepr liegenden Unterstadt, welche von den Russen hartnäckig verteidigt wurde. Die Oberstadt ist mit einer sehr alten steinernen Mauer umgeben, durch welche Löcher für die Geschütze gebrochen waren, um über den Dnjepr auf die Unterstadt feuern zu können. Ich hatte eine Meldung an Davout zu machen und fand den Marschall, wie er, bei einer dieser Kanonen stehend, einesteils die Arbeit der französischen Pioniere beobachtete, welche unter uns die Pontonbrücke schlugen, andernteils den Übergang der Grenadiere über dieselbe beaufsichtigte. Es war ein imposanter Anblick, diese Helden, welche zum Stürmen kommandiert waren, mit der unerschütterlichsten Ruhe, Gewehr im Arm, vortreten zu sehen, sobald die Bohle gelegt worden, auf der sie ihren Platz einnehmen sollten. Das mörderische Feuer der russischen Kanonen lichtete fortwährend ihre vordersten Reihen; aber über die Leiber ihrer gefallenen Kameraden, ihnen lieb und wert, traten sie in diesem Augenblick ohne Bedauern, ohne ihnen auch nur einen Blick zu schenken, an die freigewordene Stelle; sie verbargen ihre Trauer, wie ihre Freude, dem Feind entgegenzugehen, und nur der unerschütterlichste Ernst thronte in den Zügen dieser in so mancher Schlacht geprüften Soldaten.
Die Russen gaben infolge der Operationen, welche unsere Armee während der Zeit am andern Ufer weiter oberhalb vorgenommen, die Stadt auf. Der Besetzung von Smolensk folgte am 19. die Schlacht gleichen Namens, die gleichfalls gewonnen wurde, ohne allzu große Anstrengungen von seiten der Verbündeten. Man sah, daß den Russen nicht viel an der Behauptung des Platzes lag, wie es sich später auch auswies. Von hier aus fanden wir auf unserm Marsch sämtliche Einwohner entflohen, die Wohnungen niedergebrannt, ja selbst die bedeutenden Städte Dorogobusch, Wjäsma und Gschatsk fanden wir in vollen Flammen. Doch gelang es nach der Erstürmung immer unsern Soldaten, unter denen damals noch vollkommene Ordnung herrschte, des Feuers Meister zu werden und einen Teil der Häuser zu Wohnungen einzurichten. Die ganze Umgegend wurde nach Lebensmitteln abgesucht, und was dann von den Reserven verschont geblieben, von unseren Soldaten gleichfalls angezündet, wodurch unser späterer Untergang vorbereitet und veranlaßt wurde.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812