Erinnerung, Schilderung der Schweiz, Reisebeschreibung

Voll Enthusiasmus kehrten der Herzog und Goethe heim. Der Dichter plante ein Denkmal zur Erinnerung an diese Reisetage, die für beide eine Epoche bedeuteten. Das geschah wohl nicht. Jedoch blieb das Erinnern an die Schweizer Landschaft dauernd in ihrem Leben. Es klärte sich besonders für Goethe mählich zu naturkundlicher Sachlichkeit, zu klaren Bildern mit eigenem Ton und von wissenschaftlicher Schärfe. Der Fülle von Natureindrücken erwuchs dann eine seltene Kraft zum Ordnen, Bewältigen und Zusammenbinden des Gesehenen. Goethes „Briefe aus der Schweiz 1779“ sind durchwirkt von Frische und Unmittelbarkeit der Empfindung. Es ist, als ob der Dichter mit seinem Silberstift die malerischen Eindrücke festhält, die das Auge eines Künstlers aufnimmt. Goethes Schilderungen der Schweiz werden zum genauen Bild, andere können nur vergleichen. In einer Zeit der noch farbenblassen Naturschilderungen ahnt er schon Helligkeitsstufen. Was er sagt, ist gesehen, wenn auch die Schilderungen ganz schlicht und sachlich sind. Das Erhabenste und das Einfachste in der Natur ist für ihn Ereignis, alles nimmt er wie heiliges Gut in seiner Seele auf, und in dem manchmal lehrhaften und trockenen Ton seiner Beschreibungen finden wir immer Schönheit und persönliche Darstellung. In Goethe war künstlerische Forschertätigkeit. Er war nie Schulmeister. Das beweisen später vor allem seine morphologischen Entdeckungen. Auch hier war er Künstler! So ließ er auch die romantische Mächtigkeit der Schneegipfel und Firnen auf sich einwirken und schilderte sie dann meisterlich als scharfe und klare Naturbilder. Der erste deutsche Dichter und große Sprachschöpfer der Naturschilderungen. Seine Werke bergen eine Fülle neugeprägter Worte, viele davon sind sogar wissenschaftlich genau und immer noch vorbildlich. Selbst seine Gedichte haben diese Eigentümlichkeit. In ihm war Rousseau. Das Erbe nach dem großen Philosophen und Sehnsuchtsmenschen erstand in Goethe zu neuem Sein. Es waren tiefes, heiliges Naturgefühl und die Allgewalt einer innigen Weltbetrachtung. Sie legten Leben und Fühlen der Allmutter Natur in die gütigen Hände. Faust und Werther erzählen davon. Da und dort schon finden wir die Anfänge von Naturbetrachtung und Erkenntnis, die Goethe später den Weg zu ernsten Studien weisen sollten, und wir freuen uns an der sanften gütigen Klarheit seiner Anschauungen und an seiner Milde zu den Menschen. Über diesen Auszeichnungen liegt der Sonnenschein einer beglückenden, ruhebringenden Liebe, die Goethe alles heiter macht, und überall begleitet ihn das größte Wetterglück, alles hüllt sich in den vollen Glanz einer lichten und erwartungsvollen Zeit. Es ist wie ein Blütenregen von Glück und Huld, den ein gütiges Geschick herabgesendet hat. Man denke an Goethe im Schluchtwege der Birs im Engpass des Münstertales! „Der Zug durch diese Klus mit ihren grotesken, von Nadelwald überkleideten Sedimentgebilden machte ihm eine große, ruhige Empfindung. Was er von hier aus Charlotten über die Entstehung der hochragenden Felswände schrieb, stimmt bereits völlig zu jener, sein ganzes Leben lang festgehaltenen Naturanschauung, die, auf dem Gedanken einer ruhigen, stetigen Weltentwicklung ruhend, zur späteren Bekämpfung des Plutonismus führen musste*)“ Er fühlt sich überall der Gottheit nahe und ist voll tiefer Dankbarkeit. Er hält Einkehr in sich selbst in dieser unendlichen Einsamkeit, er steigt in die verborgensten Schachte seines Wesens nieder, und tiefer Ernst und Seelenreinheit überkommen ihn. So geht er den Weg der Läuterung, den der Verkehr mit Lavater noch vollends fördert. Voll Friede und innerer Beglückung kehrt er heim. Er fühlt sich befreit von allen druckenden Gedanken. Er empfindet etwas von seiner eigenen Größe und moralischen Überlegenheit. Die Vergangenheit hat keine Gewalt mehr über ihn. Die Pflichten seines Amtes sind ihm ernste, geheiligte Aufgaben zum Nutzen seiner Mitmenschen. Da fühlte sich Goethe älter als er war. Es rief ihn das, was unseren Jahren so oft weit vorangeht.

*) J. Herzfelder, Goethe in der Schweiz. Eine Studie zu Goethes Leben. Leipzig, 1891. Verlag S. Hirzel. 61.


An dichterischen Arbeiten und Zeichnungen brachte auch diese Reise wenige Früchte. „Gezeichnet habe ich keine Linie“, sagt er selbst. Die Gewalt und Großartigkeit der Schweizer Alpenwelt überwältigte ihn zu sehr, als dass er sich hätte schöpferisch sammeln können. Verwirrt und beunruhigt, immer sehend, wurde die Aufmerksamkeit auf äußere Gegenstände gelenkt. Sie ließ wenig innere Produktivität auskommen. Der allgemeine Eindruck dieser Reise und Lavaters ethische Persönlichkeit aus ihn und den Herzog waren tief und nachhaltig. „Mannigfaltige Gedanken und Überlegungen, das Leben ist so geknüpft und die Schicksale so unvermeidlich. Wundersam! Ich habe so manches getan, was ich jetzt nicht möchte getan haben, und doch wenn’s nicht geschehen wäre, würde unentbehrliches Gute nicht entstanden sein ...“ (Tagebuch 26. März 1780)

Goethe war nach der zweiten Schweizer Reise von unendlicher Arbeitskraft, sowohl im Amt, wie als Dichter. Er ließ seine Reiseberichte niederschreiben und schon am l. April konnte er sie Corona Schröter vorlesen, kurz darauf auch in dem Kreis der Herzogin Amalia. Am 30.. März entstand ihm der Gedanke an „Tasso“. Bald gab er den ersten Akt Frau von Stein. Auch am „Wilhelm Meister“ schrieb er, es entstanden „die Vögel“, ein Lustspiel nach dem Griechischen und nicht nach dem Griechischen; am 6. September desselben Jahres schuf er „Wanderers Nachtlied“ und um den 15. September das Schönste seiner rhapsodischen Lyrik: „Meine Göttin“.

Überhaupt waren die Jahre 1776-1786 bei Goethe reich an produktivem Schaffen. Hierher gehören auch „Iphigenie“, „die Geschwister“, „der Falke“, „Proserpina“, „Elpenor“, „Egmont“ und noch andere Werke. Seit 1779 griffen zwei große Ereignisse in Goethes Leben ein: die italienische Reise und das Bündnis mit Schiller. Beide wirkten nachhaltig auf seine Schaffenskraft. Er war aus Italien innerlich vollendet, erfüllt vom herrlichen Griechentum, in die kalte, dunkle Heimat zurückgekommen unvergänglicher Sonnenschein und eine neuentdeckte Farbenwelt sind in seiner Seele haften geblieben. Er hatte dort die ersten großen koloristischen Erlebnisse! Nichts konnte ihn aus seiner „olympischen“ Ruhe bringen, nichts seine tiefe Verinnerlichung aushalten, auch nicht die Engherzigkeit der Menge, die seine größten Schöpfungen Iphigenie“ und „Tasso“ ablehnte. Er ging unberührt und ruhig weiter und umgab sich mit nimmerendender Arbeit. Er wusste, was er schuf und wollte. Das Bündnis mit Schiller reizte ihn nur noch mehr dazu.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit Goethe durch die Schweiz