1779 Reise mit Herzog Karl August und Kammerherr von Wedel (II)

In Bern hielten die Reisenden dann einige Tage Rast. Da weilten sie gerne und freuten sich der „wohlhabenden, reinlichen“ Stadt. Alles rührte sie freundlich an. Sie besuchten allenthalben Merkwürdigkeiten mannigfachster Art, die ihr Interesse erregten und kamen einigen Menschen nahe, mit denen sie stille Fäden gleichen Fühlens verbanden. Das waren der Landschaftsmaler Johann Ludwig Aberli aus Winterthur, der Künstler Marquard Wocher, Maler Franz Schütz, Bürgermeister Tscharner, Professor Wilhelmi, der Mitbegründer des „politischen Instituts“, einer Erziehungsanstalt für Patriziersöhne. Ferner auch Ratsherr von Kilchberger, der Verfasser moralischer und ökonomischer Aufsätze, und der Bibliothekar Sinner, Herausgeber der Voyage dans la Suisse occidentale der sich auch am Werther in verschiedener Art versucht hatte, teils als Übersetzer, teils als Bearbeiter für die Bühne. Es waren reiche und schenkende Tage, die die Gesellschaft da verlebte. Ein immergrüner Kranz der Erinnerung schlingt sich darum, zu dem alles und jeder ein Blättlein schenkte. Auch der Besuch der Freimaurerloge gehört dazu und lebendige Stunden, die Goethe bei einem Freunde Lavaters, dem Landvogt zu Gottstadt Nikolaus Anton Kirchberger, verbrachte.

Am 20. Oktober verließen die Reisenden das ihnen liebe Bern und zogen über Peterlingen (Payern) und Milden (Moudon) an den Genfer See nach Lausanne, der weißen Stadt auf den Hügeln des Mont Sorat. Und da sind es nicht allein die blauen milden Wasser, die leise am Ufer anschlagen, darüber die Möwen wie Märchenvögel ziehen, nicht die helle Sonne, die auf ein Bild unvergleichlicher Schönheit nieder schaut, nicht Berge im klaren Licht und der azurne Himmel, der wie eine Kuppel sich über alles wölbt, die Goethes Herz entzünden, nein, da ist auch die schöne Marchese Bronconi, die Geliebte Karls von Braunschweig und Freundin Lavaters, deren Lieblichkeit ihn gefangen nimmt. Mit so weit offenem Herzen genoss Goethe die lichte Schönheit dieser Umwelt und kam nach Vevey, wo Rousseaus Poesie alles in Dust hüllt und die Erzählung der „Neuen Heloise“ tief empfindsame Menschen hinzauberte. War es da zu verwundern, wenn dem Dichter die Augen feucht wurden, als er den Dent de Chamant sah, und die Plätze und Wege, die durch Rousseau für immer geheiligt sind? Ohne Trübung genießt er sie. Von Vevey aus ging die Reise weiter nach Rolle, dann in den südlichen Teil des Jura und endlich in das Vallée de Joux. Wieder erfreute sich Goethe an dem Wohlstand des Kantons Bern, der damals gar sehr vom französischen Gebiet abstach. Am 27. Oktober kommen sie nach Genf und wohnen im Hotel Balance (heute Rue du Rhone nahe der Place de Belvoir). Von da aus sendet Goethe die Erzählung seiner Jurawanderung an Frau von Stein, an seine Mutter und Schlosser. Er wurde in Genf viel gefeiert und doch fühlte er sich nicht wohl. Die Stadt wirkte auf ihn niederdrückend. Mit fröstelnden Gefühlen sieht er sie. Sie war von öden Festungswerken eingeengt, bergig und düster, wie noch heute der alte Stadtteil am Rhoneufer ist. Genf war damals noch dunkel und grau. Trübes Wetter nahm auch jeden Ausblick in die Berge. Es fehlten die lichten Farben von Lausanne. Den Herzog und Goethe zog es aus der unfreundlichen Stadt unwiderstehlich nach Chamonix und an den Fuß des Montblanc, trotzdem viele von dieser Wanderung in der schlechten Jahreszeit abrieten. Jedoch Horace Bénédict de Saussure (1740-1799), der Begründer der Gletscherwissenschaft und Gebirgsgeologie, an den sie sich um Auskunft wandten, unterstützte die Reisegesellschaft in ihrem Vorhaben (er selbst bestieg acht Jahre später den Montblanc) und so brachen sie in den ersten Tagen des November dahin aus. Schon damals wusste man, dass das Chamonixtal*) und die Kette des Montblanc mit ihren gewaltigen Gletschern zu den großartigsten alter Hochgebirgsszenerien gehören.


*) Schon 1091 wird es genannt (Campus munitus; le Prieurè). Im 18. Jahrhundert haben es die Engländer Pocode und Windham bekannt gemacht, und dann vor allem seit 1760 Saussure und Vourrit (1769). 1786 erfolgte durch Dr. Michael Paccard die erste Besteigung des Montblanc über die Montagne de la Côte.

Wir finden nun in Goethes Aufzeichnungen die weitere Reise bis zur Ankunft im Hospiz am Gotthard. Dem Dichter tritt aus diesen einsamen, totenstillen Höhen seine erste Reise in der Schweiz vor die Seele, all seine Pläne und Hoffnungen, seine Umkehr vor dem Weg nach Italien, und es war ihm, als ob sich ihm aus dieser namenlosen Verlassenheit die Vergangenheit in besonders starken Farben emporhebe. Auch diesmal hatte er keine Sehnsucht nach dem Süden. Er kehrte mit dem Herzog gerne heim. Auf denselben Wegen wie damals. Sie berührten Luzern und dann Zürich. Das war der Höhepunkt der ganzen Reise, die Tage mit Lavater, dem Diakon an der St. Peters-Kirche! „Die Bekanntschaft mit Lavater ist für den Herzog und mich was ich gehofft habe, Siegel und oberste Spitze der ganzen Reise und eine Weide am Himmelsbrot, wovon man lange gute Folgen spüren wird ...“ Es war eine Zeit reichen Inhaltes voll. Goethe beginnt hier das Singspiel „Jery und Bätely“, in dem er alle Erlebnisse wie in einem lieben Erinnerungsbild festhalten will. Mit dem Komponisten Kayser bespricht er die Musik. Er besucht wieder Bodmer, auch den Dichter Salomon Leßner und den Physikus Chorherrn Johann Leßner. Dann setzen sie ihren Stab weiter. Man zieht heimwärts. Die Reise geht über Schaffhausen, Konstanz nach Stuttgart. Dort wohnen sie der Prüfungsfeier in der späteren „Hohen Karlschule“ bei. Ein Zögling Friedrich Schiller erhielt drei Preise. Noch hatte dieser Name für Goethe keine Bedeutung. Über Karlsruhe, wo er den Schauspieler Iffland als Carlos in seinem „Clavigo“ sah, gelangte die Gesellschaft noch einmal nach Frankfurt. Von da aus werden Ausflüge an die Höfe von Darmstadt, Hohnau und Homburg unternommen. Aber die Reisenden sind müde und abgespannt, und einige ruhige Tage in Goethes Vaterhaus vergehen rasch. Am 13. Januar 1780 erreichen sie Weimar.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit Goethe durch die Schweiz