1779 Reise mit Herzog Karl August und Kammerherr von Wedel (I)

Als die Gesellschaft im September 1779 Weimar verließ, wusste niemand um das Ziel der Reise, nicht einmal Frau von Stein. Es hieß, der Herzog wolle an den Rhein, den Herbst dort zu genießen. Goethe hatte vorher an seine Mutter geschrieben und die Gesellschaft angemeldet. Es waren Herzog Karl August, der Kammerherr von Wedel und er selbst mit seinem Diener Philipp Seidel, der später „Goethes vidimierte Kopie“ [öffentlich beglaubigt] genannt wurde. Am 18. September trafen sie in Frankfurt ein. Goethes Elternhaus nahm die Reisenden auf. Dort waren sie zu Gast. Nach fast vier Jahren umarmte er Vater und Mutter wieder. Frau Aja war innig gerührt und beglückt, und die Gesellschaft verlebte sonnige Zeiten. Auch seinen Freund Merck traf Goethe da. Dieser hatte durch seine Verheiratung mit Louise Francisque Charbonnier von Morges die Schweiz kennen lernen können und erzählte viel vom Waadtland, wo er bei Verwandten seiner Frau im Frühling 1774 zu Besuch war. Es liegt nahe anzunehmen, dass die Anregung zu einer Reise nach der Schweiz von ihm ausging, um so mehr, als er im Oktober darüber an Wieland schrieb: „Nach Italien gehen sie gewiss nicht. Sie müssten denn sehr gelogen haben. Die Reise nach der Schweiz ward auch erst in Frankfurt projektiert und also hatten sie leicht ein Geheimnis von etwas zu machen, das sie selbst nicht wussten.“*) Merck stand auch seit längerer Zeit in Verbindung mit dem Berner Pfarrer und Naturforscher Samuel Wyttenbach. Er empfahl Goethe an ihn.

*) Hinrich Dübi, Johann Heinrich Merck und Bern. Mit ungedruckten Briefen; zugleich ein Beitrag zu Goethes Schweizer Reise vom Jahre 1779. Hessische Chronik 1913.


Nach einigen Tagen verließen die Reifenden Frankfurt und zogen weiter, von Freund Merck bis Ebersstadt begleitet. Es geht durch die Pfalz nach dem Elsaß. Goethe trennt sich da für einen Tag von seinen Genossen und besucht die Familie Brion in Sesenheim. An der Schwelle des friedlichen, trauten Pfarrhauses hielt er bewegt inne. Wie ferne lag die Zeit, als er daraus schied und so tiefes Leid zurückließ! Es war wie ein banger, halbvergessener Traum, der leise anklagend in seiner Seele noch einmal die Augen aufschlug. Er findet alle unverändert wieder, auch Friederike. Nichts erinnert an die schwere Krankheit und die düsteren, an Bitternissen reichen Tage, die sie umfingen, da er von ihr gegangen war. Die Familie begrüßte ihn freudig und innig wie einen lieben, lange erwarteten Freund. Auch die Nachbarn werden gerufen. Man sucht die alten Plätzchen und Laubengänge im Garten auf, man plaudert wie einst, und Goethe verlebt glückliche, heitere Stunden im Kreise dieser edlen Menschen. Am nächsten Morgen scheidet er und wie Segen fühlt er die Innigkeit des Erlebten in seiner Seele. Er konnte wieder mit friedlichen Gefühlen an das Pfarrhaus und die Freunde in Sesenheim denken. Am 26. September ist Goethe in Straßburg und trifft mit seinen Reisegefährten zusammen. Er besucht dort Lili, die in glücklicher Ehe mit dem Bankier Bernhard von Türkheim lebt. Als er ins Zimmer tritt, fesselt ihn ein Bild innigster Mutterfreude. Lili spielt mit ihrem wenigen Wochen alten Kindchen, ein sonniges Lächeln liegt auf ihrem Gesicht. Auch da konnte er beruhigt scheiden. „Die schöne Empfindung, die mich begleitet, kann ich nicht sagen.“

Der folgende Tag führt den Dichter nach Emmendingen zu seinem Schwager Schlosser. Da fand er Johanna Fahlmer als dessen Gattin an Stelle seiner toten Schwester. Ihm ist unendlich weh um Cornelie, die am 8 Juni l777 gestorben war. Lange bleibt er da nicht, obgleich ihn Innigkeit und Wärme in diesem Kreise umfängt. „Ihr Haushalt ist mir wie eine Tafel, worauf eine geliebte Gestalt stand, die nun weggelöscht ist“, schreibt er. Er erfuhr auch noch das traurige Schicksal seines Freundes Lenz und von dessen Geistesumnachtung. Da fühlt Goethe durch alle Güte dieser Stunde etwas vom kühlen Flügelschlag des Todes.

Die Reisegesellschaft zieht weiter über Freiburg und durch das Höllental nach Basel. Von da ab kann man sie nach Goethes „Briefe aus der Schweiz 1779“ verfolgen. Diese sind fast wörtlich vom Beginn bis „Martinach den 6. November 1779, abends“ mit ganz wenigen Änderungen den Briefen an Charlotte von Stein und den Reiserelationen, die er für sie teils selbst schrieb, teils diktierte, entnommen. Das Weitere ist später zu Hause nach Notizen auf „Zettelgen“ geschrieben*). Eine große Lücke ist in den Berichten vom 3. bis 27. Oktober. Deshalb bleibt in der Herausgabe der Aufzeichnungen die Wanderung durch das Berner Oberland und das Waadtland unberührt**).

*) 1781 übersendet Goethe an Prinz August von Gotha einen Teil der Aufzeichnungen der Reise nach der Savoyischen Eiswelt. Erst 1796 erscheint in Schillers Horen, Heft VIII, ein Teil der Briefe aus der Schweiz, genannt „Briefe auf einer Reise nach dem Gotthard“.
**) Im Anhang habe ich einige Briefe an Frau von Stein aus diesen Tagen beigefügt. Sie sind ein guter Ersatz für die fehlenden Aufzeichnungen.


Von Basel führte der Weg durch das Münstertal über Münster nach Biel, wo die Reisenden die Petersinsel im See, das Eigentum des Berner Spitals, besuchten. Sie ist für alle Zeit geweiht durch den Aufenthalt Rousseaus im Jahre l765, und ist heute noch das Wanderziel vieler. Goethe schrieb seinen Namen an die Wand des ärmlichen Zimmers, das der große Philosoph und sehnsüchtige Mensch bewohnt hatte, und ließ sich von den Schaffnersleuten, die ihn damals während seines Aufenthaltes betreuten, von Rousseau erzählen. Was er hörte, ergriff ihn tief. In seiner Seele lebte ja Rousseau und verklärte die stürmische Lebensweisheit jener Tage.

Im Kanton und der Stadt Bern empfindet der Dichter das erstemal die segensreichen Einwirkungen einer republikanischen Verfassung auf Land, Stadt und Volk. In den Tagen ihres Aufenthaltes wohnen die Reisenden im „Falken“ in der Marktgasse. Goethe besucht den Naturforscher Wyttenbach und berichtet darüber an Merck am 17.Oktober 1779: „Bei Wyttenbachen war ich diesen Morgen drei Stunden, er ist sehr instruktiv. Er hat von allen Bergen und Enden der Schweiz die Steinarten zusammengelesen, ist ein recht artiger Mann“*). Von ihm empfängt der Dichter Vorschläge zu einer Wanderung durch das Berner Oberland und eine Empfehlung an den Genfer Gelehrten Horace Benoit de Saussure. Er sollte ihm den Weg zu den Gletschern von Chamonix erklären. Von Bern zogen sie weiter nach Thun. Am 9. Oktober fährt sie der Schiffer Peter Kocher im Nachen über den See und bleibt der Führer der Gesellschaft durch das Berner Oberland. Sie machen diese Wanderung an der Hand eines heute längst vergebenen und unbekannten Geleitbüchleins**). Der späte Nachmittag dieses Tages sieht sie in Lauterbrunnen bei Interlaken, wo der Staubbach dröhnend seine rauschenden Wassermassen dreihundert Meter hoch von einer überhängenden Felswand herunterstürzt. Goethe ist bezaubert davon. Er steht in dem weißen Gischt Wassergeister vorübergleiten, hört seltsame, traumhafte Verse über Seele und Wasser raunen und erlauscht daraus den ewigen Rundlauf des Lebens und der Natur. Er sieht sich im Bild. Einige der „wundersamen Strophen, die ihm dort die Geister in die Seele sangen“ schrieb er nieder und schickte sie an Charlotte. Schwer trennt er sich von diesem zauberhaften Anblick, darin so viel von seiner Sehnsucht ist. Der Steinberg und ein Stück des Tschingelgletschers wird bestiegen und die Reisenden nehmen weiter den Weg über Zweilütschinen, besichtigen die Grindelwaldgletscher und wandern durch das Haslital über die große Scheideck und Rosenlaui nach Meiringen. „In der höchsten Klarheit des Himmels, Wärme und Kühle, ein Grün über Alles und Farben an den abstehenden noch ganz beblätterten Bäumen“... schreibt Goethe von dieser Wanderung an Merck. Über Brienz und den gleichnamigen See gelangen sie nach Interlaken, Unterseen und Thun. Sie kehren am 15. Oktober nach Bern zurück. Diese Wanderung durch die Naturwunder des Berner Oberlandes hat alle, aber ganz besonders Goethe, tief ergriffen, und er erklärt sich unfähig, all die Schönheit und das Erlebte zu sagen, die sich ihm unvergesslich einprägten. „Kein Gedanke, keine Beschreibung noch Erinnerung reicht an die Schönheit und Größe der Gegenstände und ihre Lieblichkeit in solchen Lichtern, Tageszeiten und Standpunkten.“ Selbst als er die Schilderung dieser zweiten Reise in Druck gab, hat er lieber diesen Teil unbesprochen gelassen, sein Stift war zu schwach, diese erhabenen Eindrücke zu schildern und seine Seele zu sehr erfüllt vom Göttlichen in der Natur, um dafür Worte zu finden. In einer höheren und umfassenderen Bedeutung hat er es später getan: Goethe, der Naturphilosoph.

*) Heinrich Dübi, Hessische Chronik 1913, a. a. O.
**) Sein Titel ist: „Kurze Anleitung für diejenigen, welche eine Reise durch einen Teil der merkwürdigsten Alpengegenden des Lauterbrunnentals, Grindelwald und über Meyringen auf Bern zurück, machen wollen. Bern 1777. Von J. S. Wyttenbach (Pfarrer an der Heil. Geistkirche in Bern).“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit Goethe durch die Schweiz