Merkwürdigkeiten aus dem Reich der Natur

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 5. 1927
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Natur, Tierreich, Pflanzenwelt, Insekten, Ohrwürmer, Ameisen, Schmetterlinge, Heuschrecken, Pappelschwärmer, Nachtpfauenauge,
Vom Liebesleben der Ohrwürmer. Wenn im Herbst der Brunstschrei der Hirsche ertönt, dann ergreift die Liebesleidenschaft auch den Ohrwurm, dieses Kerbtier, über das im Volke so viele Fabeln verbreitet sind. Auf sonniger Halde fechten die Männchen erbittert um der Minne Sold. Es sieht höchst drollig aus, wenn zwei eifersüchtige Nebenbuhler aneinandergeraten; denn sie kämpfen in einer merkwürdigen Stellung. Sie haben zwar auch Beißwerkzeuge, aber diese vergessen sie in diesem Augenblick und befehden sich wütend mit ihrer anderen Waffe, den am Hinterteil befindlichen Zangen. Zu Verwundungen kommt es bei dieser Stellung der Kämpfenden niemals; aber der Besiegte zieht sich zumeist matt und kampfesmüde zurück und überlässt dem stärkeren Nebenbuhler die ersehnte Ohrwurmjungfrau.

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Genusssucht im Ameisenstaat. Wie der Alkoholismus manche Völker an den Rand des Verderbens gebracht hat, so leidet mancher Ameisenstaat schwer unter der Vorliebe seiner Bewohner für die aromatischen Absonderungen gewisser Kurzflügler und Fühlerkäfer, die in ihre Nester eindringen. Wo sich solche Käfer eingebürgert haben, pflegt sich das ganze Sinnen und Trachten der Ameisen nur um diese zu drehen. Man beleckt und hätschelt sie, damit sie sich des ersehnten Saftes möglichst stark entäußern, und pflegt die Brut der gefährlichen Mitbewohner. Wo diese zahlreich sind, unterbleibt jede Aufzucht von Königinnen, das heißt der Produzenten der Nachkommenschaft, die vernachlässigten Arbeitslarven verkümmern und ergeben unglückliche Buckelgeschöpfe, die für die Arbeit untauglich sind. Dazu kommt, dass die Käfer die Eier und Brut der Ameisen rücksichtslos auffressen. Der ganze Ameisenstaat geht schließlich zugrunde. Und dies alles um des Genusses willen.

Vom Lichtsinn der Pflanzen. Die Pflanzen besitzen eine ans Märchenhafte grenzende Empfindlichkeit für das Licht. Unterschiede in der Lichtstärke, bei denen selbst die feinsten menschlichen Messinstrumente versagen, findet die Pflanze noch mit Sicherheit heraus. Der Wiener Botaniker Wiesner, der sich um die Aufhellung dieser Fähigkeit die größten Verdienste erworben hat, stellte Wickenkeime zwischen zwei Gasflammen, in deren Beleuchtungseffekten mit Hilfe der Messinstrumente kein Unterschied zu entdecken war. Die Keimlinge aber entdeckten sofort, dass eine Flamme etwas stärker war, und neigten sich dieser zu, sooft sie auch in ihrer Stellung verändert wurden. Man hat berechnet, dass noch eine Lichtmenge von 0,000032 Kerzenstärken genügt, um diese Wendung nach dem Licht auszulösen, das heißt eine Lichtmenge, die mindestens hundertmal größer sein müsste, um vom Menschen wahrgenommen zu werden.

Die Heuschreckenbatterie. Auf eine merkwürdige Weise schützt sich eine afrikanische Heuschrecke gegen ihre Angreifer, denen sie besonders ausgesetzt ist, weil seltsamerweise ihre Farbe nicht dem Wüstensand angepasst ist, sondern blauschwarz mit roten Punkten erscheint. Die Heuschrecke, die von ihrem ersten Beobachter eine wahre Blutspritzbatterie genannt wurde, schießt auf den Feind eine wohlgezielte Ladung ihres widerlich riechenden Blutes. Die Flüssigkeit kommt aus den Hüftgelenken ihrer Beine und kann ein halbes Meter weit geschleudert werden. Gewöhnlich genügt dem Verfolger eine solche Salve; doch wird sie im Notfallzwei- bis dreimal wiederholt.

Die duftenden Schmetterlingsweibchen. Die Weibchen mancher Schmetterlinge strömen einen unseren groben Sinnen nicht wahrnehmbaren Duft aus, den die Männchen mit einem unglaublich feinen Witterungsvermögen aus weiter Ferne wahrnehmen. Der ausgezeichnete französische Entomologe Fabre setzte in sein Zimmer des Nachts Weibchen des Nachtpfauenauges und Eichenspinners unter Drahtglocken. Obgleich diese Schmetterlinge in der Gegend sehr selten waren und obgleich er um die Drahtglocken Untertassen mit Naphthalin, Lavendelessenz, Petroleum und Schwefelwasserstoffwasser aufgestellt hatte, betrug die Anzahl der heranpilgernden Nachtpfauenaugen an acht Abenden hundertfünfzig, die manchmal in ganzen Trupps erschienen. Von den in jener Gegend noch selteneren Eichenspannern erschienen in einer Nacht nicht weniger als sechzig Bewerber. Sogar die Blätter und Zweige, die Flanell- und Wattenpolster, auf dem die Weibchen geruht hatten, übten die gleiche Anziehungskraft aus. Andere Forscher stellten fest, dass die Männchen des Pappelschwärmers durch den Schornstein zu den Weibchen ins geschlossene Zimmer kamen.

weibliche und männliche Cochenille-Laus

weibliche und männliche Cochenille-Laus

Ameisen

Ameisen