Früh am Morgen kam ich zu dem ziemlich wohlgebauten Anklam, welches nun nicht mehr Grenzstadt ist.

Früh am Morgen kam ich zu dem ziemlich wohlgebauten Anklam, welches nun nicht mehr Grenzstadt ist. Ich betrachtete mit einer eigenen Art Rührung den kleinen Peenefluß und die rote Brücke, welche vor gar nicht langer Zeit die südlichste Grenze der schwedischen Herrschaft war. Hier hören die Weidenbäume auf, welche bis dahin, wie in den ebenen Gegenden meines Vaterlandes, die Landstraße einfaßten. Das Land fährt fort, getreulich seine pommersche Beschaffenheit zu behalten. Bis Pasewalk hatte ich die Gesellschaft einer jungen, etwas schwermütigen, aber gleichwohl noch viel offenherzigeren Bürgersfrau, einer armen und bescheidenen Witwe, die beim letzten Kriege ihren Mann unter den Mauern von Paris verloren hatte, einen wackeren Freiwilligen, mit dem sie nur sechs Monate verheiratet war. Es war ihr dennoch gelungen, sich eine kleine Tochter anzuschaffen, die bei einem Bruder in Pasewalk lebte und die sie von dort abholen wollte. Es machte mir Vergnügen, sie den engen Kreis ihrer Häuslichkeit und ihrer Bekanntschaften beschreiben zu lassen, zu hören, welche bescheidenen Forderungen sie an das Leben stellte und wie selbst diese bei ihrer Lage gleich unerreichbaren Glanzbildern vor ihrer Sehnsucht schwebten und wie sie ihre doch so reiflich und heroisch überlegte Reise nach Pasewalk lang und abenteuerlich fand. Sie ließ nicht eher nach, als bis ich etwas von ihrem Reiseproviant gegessen hatte, und bat Gott, ihr auch bei der Rückreise einen so freundlichen Reisekameraden zu schenken. Zum Schluß drückte sie mir beim Abschied die Hand mit einer naiven Heftigkeit, und ich empfand dabei den gespensterhaften Eindruck, der einen im allgemeinen auf einer langen Reise und am häufigsten in einem Postwagen an die Schattennatur des menschlichen Lebens erinnert, nämlich die sichere Ueberzeugung, niemals wieder mit einem Wesen zusammenzutreffen, das einen zwar nicht bedeutend interessierte, mit dem man aber doch mehrere Stunden lang freundliche Worte und kunstlose Aeußerungen eines gutmütigen Herzens wechselte. – Ich bekam indessen keine Zeit, wehmütig zu werden, denn an Stelle dieses einen Frauenzimmers schenkte mir Fortuna in Pasewalk drei und zwei kleine Mädchen dazu. Diese Gesellschaft sollte mir bis Prenzlau folgen, und nun erhob sich mit einem Male im Postwagen eine so geschwätzige Lebendigkeit, daß der Gehörsinn eine ganze Weile völlig davon betäubt wurde. Ein angenehmerer Rausch erfreute indessen nach und nach die anderen Sinne: unter den neuangekommenen Frauenzimmern, die übrigens der niedrigsten Handwerkerklasse anzugehören schienen und ebensowenig schön wie geistreich waren, befand sich ein siebzehnjähriges Mädchen, wohlgekleidet, wortkarg und zerstreut, welches sich bei näherer Betrachtung von einer entzückenden Körperbildung erwies, ja das schönste Weib war, welches ich hier draußen gesehen habe. Sie hatte ein Paar große, dunkelblaue, warme Augen unter langen, schattigen Wimpern, ein dunkles, lockiges, majestätisches Haar, einfach und geschmackvoll gepflegt, eine mehr italienische als nordische Gesichtsfarbe und einen kleinen Mund, der sich selten öffnete, aber selbst geschlossen die schmelzende Stimme und die heimlichen Seufzer des jungen Busens der Besitzerin ahnen ließ. Eine Weile saß sie mir gerade gegenüber, dann erklärte sie, ihren Platz wechseln zu müssen, weil sie es nicht ertragen könne, rückwärts zu fahren, worauf ich in zierlicher Rede die übrige Gesellschaft überzeugte, daß meine Gesundheit es nicht länger erlaube, still unter dem stickigen Lederdache zu sitzen, welches zwei Dritteile des Wagens überspannte, und daß ich auf dem Außensitze frische Luft schöpfen müsse, um nicht ohnmächtig zu werden wie unsere soeben vom Schwindel befallene Schöne. Gesagt, getan! Ich erbrach mein ledernes Gefängnis und ließ die Oeffnung wieder hinter mir zufallen, nachdem ich mit ungemeiner Würde mich meines Anteils an der allgemeinen Konversation gegen einen alten, mageren und gellend schreienden Schulmeister entledigt hatte, der Freier hieß und beständig in der Schlafmütze fuhr unter vielerlei Spekulationen hinsichtlich der Reformen, welche er mit dem Katechismusunterricht in Stargard vorzunehmen gedachte. Nun war ich mit meiner Armida allein, deren Blick mit einigen spitzfindigen Strahlen aufleuchtete, als sie meine Ankunft gewahrte und hörte, wie ich den hinter dem Vorhang Sitzenden ein paar vereinzelte Regentropfen als einen Wolkenbruch abmalte, damit sie in ihrer zusammengekauerten Stellung sich desto weniger um jemand anders kümmern sollten. Es war jetzt das erste Mal, daß ich die unaufhörlichen Stöße des Wagens auf der schändlichen Landstraße angenehm fand, und je schlimmer der Postillon durch die Ortschaften fuhr und trompetete, desto mehr war ich damit zufrieden, denn das schöne Mädchen sank alle Augenblicke bald auf meine Schulter, bald an meine Brust, und unsere Arme, unsere Hände, unsere Kniee berührten einander, Schlag um Schlag, elektrisierend. Aber – ich mußte sie in Prenzlau zurücklassen. Es war mittlerweile Spätabend geworden, und die zweite Nacht stand mir zu durchwachen bevor. Sogar mein alter Schulmeister, mit dem ich eine Art vertraulicher Aushilfsbekanntschaft angeknüpft hatte, ließ mich nun im Stich, und ich befand mich, während eines ziemlich langen Wartens auf Weiterbeförderung, in einer so elegischen Stimmung, daß ich vielleicht noch in selbiger Nacht im Wirtshause die Elegie fertig gemacht hätte, wenn nicht die endlich anlangende Stettiner Post mich unwiederbringlich dem Reiche der Liebe und des Gesanges entrückt hätte. Sie führte nämlich von Stettin eine Menge Offiziere mit, die den ganzen Postwagen in Besitz genommen hatten, so daß ich, nach der bei jeder Station üblichen Inventierung, Registrierung und Umpackung von Sachen und Personen, hoch in der Luft auf einem mit allerlei Gerumpel bis zum Uebermaß belasteten Fahrzeug sitzen blieb, welches genau das Aussehen eines kolossalen schwedischen Bauernwagens hatte und »Beiwagen der Postkutsche« genannt wird, auch bloß zur Verwendung kommt, wenn sich so viele Reisende mit einem Male eingefunden haben, daß der eigentliche Postwagen die nicht mehr aufnehmen kann, welche sich zuletzt meldeten. In dieser Lage, deren Annehmlichkeit noch durch einen tüchtigen Nachtregen erhöht wurde, setzte ich meinen Zug müde, enttäuscht und düster fort, ohne irgend etwas von der netten Stadt, die in Schweden zum mindesten ein Regierungshauptsitz sein könnte, noch von dem fischreichen Uckersee und dessen Umgebung gesehen zu haben. Am nächsten Morgen besserte sich wenigstens das Wetter und damit zugleich mein Geschick. Ich freute mich, freie Aussicht und Luft zu haben, und war klug genug, nicht in den einkerkernden stickigen Kasten zu kriechen, als die in demselben garnisonierenden Helden, nun, nachdem sie sich seines Schutzes gegen Kälte und Regen während der Nacht bedient hatten, hervorkrochen und mich unter dem Scheine billig denkender Höflichkeit zu überreden suchten, mit ihnen Plätze zu wechseln. Die Hitze wurde ihnen denn auch wirklich weiterhin am Tage so beschwerlich, daß einer nach dem andern heraussteigen und auf das Wagendach klettern mußte, woselbst sie in abwechselnd komischer Lage schnauften und sich beklagten. Neben mir hatte ich ziemlich lustige Reisegesellschaft in Gestalt eines vornehmeren, ambulatorischen Postknechts oder Fuhr-Intendanten und Reise-Kondukteurs, dessen Titel »Herr Schirrmeister« lautet – ein Mann, der zwischen gewissen Plätzen die Reisenden begleitet, für ihre Beförderung in solchen Orten haftet, woselbst Pferde und Beiwagen gewechselt werden, und für ein mäßiges Trinkgeld, welches er beim Abschied erhält, den Schwager, so oft es sein soll, zu größerer Schnelligkeit ermahnt und den Reisenden mit unterschiedlichen Dienstleistungen zur Hand geht. Mein Gespannmeister (klingt dies Epithet nicht ein wenig homerisch?) war ein alter, gesprächiger ehemaliger Unteroffizier, der mich mit allerlei Schnack über den alten Fritz und den großen Kurfürsten, mit Gespenstererscheinungen und uralten bonnes fortunes unterhielt, log, aufschnitt, mir Schnupftabak anbot und mich nötigte, in allen Krügen, wo es ihm und dem Schwager zu halten beliebte, geräucherten Aal zu verzehren. Zum Dank hierfür ließ ich ihn eine in Greifswald von edelmütiger Hand gefüllte und mir geschenkte Flasche Bischof leeren, von der ich übrigens zuvor, wie ganz in der Ordnung war, über die Hälfte der freundlichen Witwe und dem reizenden Mädchen aufgenötigt hatte. So kroch man vorwärts durch Templin, Marienwalde, Zehdenick, kleine Städte, Flecken und Dörfer, bis wir am Abend in Oranienburg eintrafen, einer Stadt, die für uns Schweden merkwürdiger ist durch unseres Karl Johanns dort ausgefertigtes ritterliches Manifest als durch ihr königliches Schloß und ihre Lesegesellschafts-Anstalt, von der man sagt, sie sei die am reichlichsten ausgestattete Deutschlands. Bis hierher bekam man wenigstens da und dort ein Stück schattieren Hain, einen anmutigen Park, ein hübsches adliges Eigentum (z. B. das kürzlich genannte Liebenberg) zu sehen, je näher man aber an Berlin kommt, desto kahler und öder wird die märkische Sandwüste. Die Physiognomien der Leute aus dem Volke, von Prenzlau an bis zur Hauptstadt, schienen mir nicht mehr das schonensche Gepräge der Pommern zu haben; die Brandenburger sind zweifelsohne ungemischtere Abkömmlinge der früher in diesen Landen so mächtig herrschenden Wenden, die niemals ein irgendwie schöner Volksstamm waren. Die Gemütsart, welche die Natur hier ihren menschlichen Individuationen einhaucht, ist trocken, mürrisch, hochnäsig, grob, unsauber und trotzig. Die dritte Nachtreise, zwischen Oranienburg und Berlin, fiel mir außerordentlich beschwerlich. Drei Tage und drei Nächte hintereinander zu durchwachen unter all den Widerwärtigkeiten einer derartigen Postreise, die Nächte in herbstlicher Kühle und die Tage in brennender Julihitze, war doch zuviel für einen schwachen Körper. Ich begann in eine Art Fieberzustand zu verfallen, in dessen ängstlichen Halbträumen meine abgemattete Seele zu ihrer geringen Erbauung des Postillons Peitschenhiebe und seine wunderlichen Zurufe für die Pferde als die einzigen Laute, welche die unheimliche Einförmigkeit der stummen und stäubenden Sandfläche unterbrachen, vernahm. Endlich fuhr ich in der Morgenstunde aus meinen Fieberschauern inmitten eines erschrecklichen Lärmens, Kreischens und Lachens empor, das mich von allen Seiten umgab, worauf ich nicht weit vor mir große Massen Steinhäuser gewahrte und von meinem Schirrmeister erfuhr, daß wir jetzt unverzüglich durch das Oranienburger Tor in die stolze preußische Hauptstadt einziehen würden. Das Kreischen und Lachen rührte von einem Haufen dort herausgekommener brandenburgischer Milchmädchen her, umförmlichen Wesen in breiten Unterröcken und schwarzen Hüten mit großen, schlaffen Krempen; sie waren von den Herren Schwägern mit einem Dutzend Höflichkeiten, nicht gerade der appetitlichsten Art, begrüßt worden, die sie jedoch mit innerlichem Vergnügen in demselben schönen Dialekt und derselben anständigen Tonart beantworteten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Menschen und Städte