Menschen und Schicksale

Autor: Börne, Carl Ludwig (1786-1837)
Themenbereiche
Biographie. – Die stille Zeit, da große Menschen und Schicksale uns nur im Abbilde erschienen und jeder in seinem Hause das Kunstwerk ruhig und bequem anstaunte, ist nicht mehr; unsere Väter waren die letzten, die sie gesehen. Gab es auch ungewöhnliche Menschen unter den Zeitgenossen, so berührten sie doch den Lebenskreis des Volkes nicht, denn nur mit der Höhe ragten sie über der Menge empor, aber ihre Grundfläche breitete sich nie über das eingeführte Maß aus. Waren es Bösewichter, so tobten sie wie wilde Tiere hinter eisernen Stäben und konnten nur die Hand verletzen, die sich ihnen entgegenstreckte. Waren sie hoch und gut begabt, so betrachtete man sie als Schauspieler, deren Wirken auf die enge Bühne beschränkt und in einigen Stunden eingeschlossen blieb, nach deren Verlaufe der fallende Vorhang sie auf immer von den Zuschauern und dem Leben trennte. Aber die Begebenheiten unserer Zeit mit den Menschen, aus denen sie hervorgegangen oder in die sie zurückgekehrt, sind uns als willkommene oder schlimme Gäste selbst in das Haus gekommen, und nachdem uns so die großen Urbilder mit Schrecken oder Ehrfurcht erfüllt, können uns die schwachen Gemälde kleinerer Dinge nicht mehr genügen. Der Vorhang des Parrhasius täuscht uns nicht mehr, wir wissen, daß nichts dahinter ist. Die sogenannten denkwürdigen Personen der drei letzten Jahrhunderte (nur Luther nicht) dünken uns flach und deren Lebensbeschreibungen langweilig. Gestürzte Minister; Bauernsöhne, die es bis zum Geheimrate gebracht; geliebte Weiber, die das Land regiert; Günstlinge, die mit dem Herzen der Fürsten ihren eigenen Kopf verloren; Hofkriege, wo man sieben Jahre lang mit blutigem Schwerte an der Schreibfeder geschnitten, die beim Friedensschlusse einige Meilen Landes diplomatisch erobert; Helden, die das Vaterland gerettet und am Ende ihrer Tage tausend Taler Zulage erhielten – das sind die wichtigsten Kapitel der Geschichtsbücher jener Zeit. Sie haben den Reiz verloren, und schon darum allein könnten Samuel Baurs (Pfarrers im Württembergischen) interessante Lebensgemälde der denkwürdigsten Personen des achtzehnten Jahrhunderts, deren erster Band in einer neuen Auflage vor uns liegt, uns keinen Beifall abgewinnen, selbst wenn der Ausdruck „interessante Lebensgemälde“ nur einen Sprachfehler und nicht einen falschen Sinn enthielte. Wir haben das Buch von 648 arabischen und zwölf römischen Seiten mit großer Geduld durchgelesen; doch sooft das Urteil streng werden wollte, mußte es am Ende wieder erweichen; denn es ist viel Rührendes darin, wie einem glücklichen Landgeistlichen die Menschen und die Dinge erscheinen. Die Wände der stillen Pfarrwohnung sind mit Kupferstichen behängt. Schlachtstücke und Schäfereien, untergehende Schiffe und Häfen, Bildnisse von Bösewichtern, Gelehrten, Narren und Helden, sie zeigen alle, von einförmigen Rahmen aus Nußbaumholze eingesperrt, die ruhige und farbenlose Fläche einer Zeichnung. Der Einbildungskraft wird zwar eine Perspektive dargeboten, aber die Sinne können nichts ergreifen. So sind die Lebensgemälde. Sie gleichen dem Wachsfigurenkabinette, das sich vor einigen Jahren in Prag zusammengebildet, wo lebende Menschen die Bewegung zurückhielten und sich für Abbilder geltend machten. Der Stil geht wie ein reisender Handwerksgeselle ruhig und zufrieden seinen Weg, unbekümmert, ob er durch die Lüneburger Heide oder im südlichen Frankreich, auf dem Leinpfade der Spree oder an den reizenden Ufern des Rheins wandere; er ficht sich durch und sucht die Herberge. Nur wenn es dunkel wird und die Geschichte sich zu Ende neigt, verdoppeln beide ihre Schritte. Doch hat die Sprache zuweilen eine Naivetät, die wohlgefällt. Z.B. der 41 jährige Ziethen, der in diesem Alter nur erst einige Scharmützel glücklich bestanden, wird der junge Held genannt – von einer Schlacht im siebenjährigen Kriege wird erzählt, das Kanonenfeuer dabei sei unerträglich gewesen – einige geschmackvolle Männer in den Alpentälern hätten zur Zeit Geßners die deutsche Sprache vervollkommnet – von Maria, einem Romane der englischen Schriftstellerin Golwin, heißt es: „Die Gefühle, die darin herrschen, sind von der echtesten und feinsten Art; alles ist darin mit jener Phantasie geschmückt, die zur Fahne des Zartgefühls und echten Empfindsamkeit geschworen hat.“ – Von Lessing wird gesagt: „Ein großer Mann im Felde der Wissenschaften.“

An Anekdoten, diesen Henkeln der großen Seelen, wodurch sie faßlich werden für den Hausgebrauch, hat das Buch Überfluß, so daß zwanzig Esser der verschiedensten Fähigkeit die Helden zugleich an den Mund führen können. Doch haben die Klassen, worin der Inhalt die denkwürdigsten Menschen zerfällt, manches Sonderbare. Nach den Generalen kommen die berühmten Satiriker – nach diesen die herrschsüchtigen Weiber – Schwärmer und Narren wohnen unter einem Dache – Richardson und Geßner werden als gelehrte Buchhändler bezeichnet; aber wenn Buchhändler gelehrt sind, werden sie treffender als Gelehrte geschildert, die auch den Buchhandel betreiben. – Mordsüchtige Rebellen, worunter Pugatschew der Kosak und der Kopfabhacker Jourdan gerechnet werden, ist doppelt falsch. Mordsucht ist kein Charakter, sondern eine Krankheit der Seele oder des Blutes, und Jourdan war kein Rebell, denn er hat seine Unmenschlichkeit im Namen der damaligen Regierung ausgeübt.

Doch leset immer das Buch und wäre es auch nur, um die höllische Hinrichtung des wahnsinnigen Damiens zu erfahren und den gerechten Himmel lobpreisen zu lernen, der mit dem Blute der Revolution solche Flecken der Menschheit ausgewaschen hat. Und wen diese Geschichte nicht genug schaudern gemacht, der lese die des gelehrten Wunderkindes Heinrich Heineke aus Lübeck, der in seinem vierten Jahre von Sprachen, biblischer Weisheit, Historie, Jurisprudenz mehr wußte als alle deutsche Studenten zusammengerechnet, und dabei sanft und fromm war.

Carl Ludwig Börne

Carl Ludwig Börne