Der englische Anzug

Unter Negligé verstand man damals jeden Anzug, der nicht für Besuch bei Hofe oder große Gesellschaft bestimmt war, also den einfachen Alltagsanzug und je weiter der Kreis derjenigen wurde, welche den Verkehr an Höfen oder in höfischen Kreisen nicht suchten oder die großen Kosten, welche der französische Anzug verursachte, nicht erschwingen konnten, je mehr die bürgerliche Gesellschaft an Selbstgefühl gewann, desto größer wurde auch die Anzahl jener, die das bürgerliche Negligékleid dauernd dem höfischen vorzogen.

Wie eine Reaktion gegen das prunkvolle und kostspielige französische Hofkleid beginnt das einfache Gewafcid des englischen Bürgers sich in Europa auszubreiten, im Gefolge des Siegeszuges, den die englische Literatur über den Kontinent hält. Der Rock kehrt wieder, bequem im Schnitt, Tuch statt Seide oder Sammet, also dauerhaft im Stoff; dunkel- statt hellfarbig, also praktisch im Tragen. Als der preußische Gesandte von Cocceji 1760 aus England zurückkam, kaufte ihm die Prinzessin von Preußen den schwarzen Tuchrock ab, den er sich in London hatte machen lassen und spielte ihn in einer Lotterie unter den Herren des Hofes aus.


Zu solchen Tuchröcken trug man lederne Beinkleider und hohe Stiefel und das Kostüm, wie es Goethe im Werther vorbildlich beschreibt, ist fertig. „Es hat schwer gehalten,“ lässt Goethe seinen Helden schreiben, „bis ich mich entschloss, meinen blauen einfachen Frack, in dem ich mit Lotte zum erstenmal tanzte, abzulegen. Auch habe ich mir einen machen lassen, ganz wie den vorigen, Kragen und Aufschlag und auch wieder so gelbe Weste und Beinkleid dazu.“ Wenn Werther dann in seinem Abschiedsbriefe sagt: „In diesen Kleidern, Lotte, will ich begraben sein,“ so war das für das empfindsame Geschlecht von damals Grund genug, um ebenso gekleidet sein zu wollen.

Es ist das Gewand, in dem wir uns die brausende Jugend der Stürmer und Dränger vorstellen dürfen, die Genies der Wertherzeit, deren ungestümer Protest gegen all das Überlebte und Verknöcherte in der Gesellschaft am heftigsten in der nachlässigen Art zur Geltung kam, wie sie sich kleideten. Der Genieapostel Christoph Kaufmann aus Winterthur ging nicht allein mit offenen ungekämmten Haaren, sondern ließ auch die Brust bis zum Nabel unbedeckt. Ein junger Mann dagegen, der sich sorgfältig kleidete, wie z. B. Goethe, galt, wie Jerusalem 1772 aus Wetzlar an Eschenburg schreibt, für einen Geck. Alle diese Genies wähnten sich der Freiheit schon nahe durch die Befreiung von Zopf und Perücke, in denen sie mit Recht eine starke Beschränkung der individuellen Freiheit empfanden. Die sorgfältige Frisur, welche die Toilette eines gut gekleideten Herrn erforderte, war nicht weniger mühevoll herzustellen, wie diejenige der Damen und ebenso schnell zerstört; sie legte dem Träger den Zwang auf, sich sehr ruhig und gesittet zu benehmen, wie es uns u. a. auch Goethe in seinen Straßburger Erinnerungen so hübsch beschreibt.