Das Briefschreiben

Wir sind im briefschreibenden Jahrhundert, an dessen Beginn wir eine so schreibfrohe Seele finden wie Liselotte, welcher Briefe von 25 Seiten eine Kleinigkeit waren, die von der Prinzeß von Wales Antworten von 28, 33, ja 45 Seiten erhielt. Ihr Zeitgenosse Philipp Jakob Spener empfing jährlich etwa 1.000 Briefe, von denen er zwei Drittel selbst zu beantworten pflegte, und diese Leidenschaft für das Korrespondieren nahm zu, je weiter das Jahrhundert vorschritt. Männer, welche wie Geliert bessernd aufweite Kreise wirken wollten, unterhielten eine ausgebreitete Korrespondenz zum Teil mit ihnen persönlich ganz Unbekannten.

Private Korrespondenzen, besonders der ausgedehnte Briefwechsel Julie Bondelis gewannen Rousseaus Anschauungen mehr Anhänger als seine Bücher. Voltaire, der sich als geistiger Patriarch Europas fühlte, korrespondierte mit der halben Welt und konnte Casanova 1760 bei einem Besuch in Ferney eine Sammlung von 50.000 an ihn gerichteter Briefe zeigen. Lavater, der jahrelang der Prophet der stillen Gemeinde der Empfindsamen in Deutschland war, schrieb seine Zirkelbriefe, wie Friedrich Nicolai sie nennt, unter der Voraussetzung, dass jeder derselben an 30 — 40 Orten bekannt werden würde. „Denn es war überhaupt eine so allgemeine Offenherzigkeit unter den Menschen“, sagt Goethe, „dass man mit keinem einzelnen sprechen oder an ihn schreiben konnte, ohne es zugleich als an mehrere gerichtet zu betrachten.


Man spähte sein eigen Herz aus und das Herz der anderen und bei der Gleichgültigkeit der Regierungen gegen eine solche Mitteilung, bei der durchgreifenden Schnelligkeit der Taxisschen Posten, der Sicherheit des Siegels, dem leidlichen Porto griff dieser sittliche und literarische Verkehr bald weiter um sich. Solche Korrespondenzen, besonders mit bedeutenden Personen, wurden sorgfältig gesammelt und alsdann bei freundschaftlichen Zusammenkünften auszugsweise vorgelesen und so ward man, da politische Diskurse wenig Interesse hatten, mit der Breite der moralischen Welt ziemlich bekannt.“ Das Briefschreiben, das Weltdamen eine Forderung der Mode war, wurde den Blaustrümpfen zur Pflicht.

Madame Geoffrin schrieb aus Prinzip täglich mindestens zwei Briefe und Madame du Deffand schrieb auch nicht das kleinste Billett, ohne nicht vorher mehrere Brouillons davon aufzusetzen. So entstanden dann jene Briefwechsel, von denen Goethe einmal sagt, dass die neuere Welt sich über ihren Gehaltsmangel verwundere, Ergüsse einer Schreibwut, die so tyrannisch herrschte, dass auch der Trägste ihr gehorchen musste; wenn sich z. B. ein Brieffauler wie Graf Stadion auch dadurch der Qual des Selbstschreibens entzog, dass er die Liebesbriefe, auf die seine Schöne ein Recht hatte, von seinem Sekretär La Roche schreiben ließ. Leuchsenring, ein Apostel der Empfindsamkeit, reiste mit mehreren Schatullen voller Briefe von Freunden, die er Dritten mitzuteilen pflegte, und wenn wir heute diese Leidenschaft für das Korrespondieren nicht mehr verstehen, so müssen wir uns erinnern, dass auch die Modeliteratur von damals diesem Hang eitler und lügnerischer Selbstbespiegelung Vorschub leistete.

Von Richardsons Clarissa bis zu den frivolen „Liaisons dangereuses“ Choderlos de Laclos beherrscht die so ganz unwahrscheinliche Form des Romans in Briefen die Lesewelt und ein so langweiliges und konfuses Buch wie „Sophiens Reise von Memel nach Sachsen“ erlebt Auflage über Auflage, während man schon nach dem fünften oder sechsten Brief von keiner der handelnden Personen mehr weiß, which is which? Heute lächeln wir über die Periode der Empfindsamkeit, die der Gesellschaft zwischen 1760 und 1790 so sichtbar ihren Stempel aufgedrückt hat. Heute schickt es sich, seine Gefühle zu verbergen, Tränen, Küsse, Umarmungen sind so gut aus der Mode gekommen wie das Briefschreiben, das wir alten Damen überlassen, die sich nichts Dringenderes anzuvertrauen haben als die Geheimnisse anderer Leute. Unser Verkehr bewegt sich in anderen Formen, unser Geist wandelt andere Bahnen, nur eine Erbschaft jener Zeit, die auf das engste mit ihrer Empfindelei zusammenhängt, ist uns geblieben: der englische Garten.
112. Taraval, J. J. Rousseau

112. Taraval, J. J. Rousseau

113. Bartolozzi nach Lady Diana Beauclerc. Zwei Mädchen auf dem Ruhebett. 1780

113. Bartolozzi nach Lady Diana Beauclerc. Zwei Mädchen auf dem Ruhebett. 1780

114. Du Greux, Kaiserin Maria Theresia

114. Du Greux, Kaiserin Maria Theresia

115. Raffael Mengs, Zwei spanische Infanten

115. Raffael Mengs, Zwei spanische Infanten

116. Joseph Wright, Die Luftpumpe, 1769

116. Joseph Wright, Die Luftpumpe, 1769

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