Standesvorurteile

Der Wert, den man auf diese Standesvorrechte legte, erhellt für uns aus der Wichtigkeit, mit der dazumal diese Quisquilien behandelt wurden, hat doch ein Leibniz sich literarisch damit befasst, sind doch die Berichte der Diplomaten zum größten Teil mit nichts anderem angefüllt.

Freiherr von Widmann, österreichischer Gesandter in München, schreibt 1750 21 Folioseiten nach Wien über die Streitigkeiten, die er bei seinem Empfang am kurbayerischen Hofe hatte und die Memoiren der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth behandeln in breitester Ausführlichkeit die ewigen Rangstreitigkeiten zwischen dem Hofpersonal, den Streit um Lehnstühle und Tabourets, um den Vortritt und dergleichen. Nie vergisst sie zu erwähnen, bis in welches Vorzimmer ihr die Kaiserin, die Königin von Preußen (ihre Mutter!) und die verschiedenen minderen fürstlichen Personen entgegenkommen.


Diese lästigen Weitläufigkeiten der Etikette veranlassten schließlich, dass an einzelnen Höfen, z. B. am preußischen, von den Gästen um den Vortritt, um die Plätze an der Tafel usw. gelost wurde. Wie besonders der Vortritt vor anderen den Damen am Herzen lag, beweisen die mannigfaltigsten kleinen Ereignisse der Zeit. Als der Herzog Ulrich von Meiningen Frankfurt a. M. besuchte, verdrängte beim offiziellen Empfang eine fremde Dame die Stadtschultheiß in Textor geborene Lindheimer gewaltsam von ihrem Platz; wenn der Kurfürst von Bayern in Nymphenburg Soupers gab, entstand zwischen den Hofdamen und den Gesandten-Frauen ein solches Wettrennen um den Vortritt in den Speisesaal, dass die alten Oberhofmeisterinnen den freigebig ausgeteilten Püffen und Rippenstößen weichen mussten. Wie einmal ein solcher Streit um den Vortritt, den 1747 in Meiningen Frau von Gleichen und Frau von Pfaffrath geb. Gräfin Solms miteinander ausfochten, sogar zum Kriege führte, mag man in der Geschichte des sogenannten Wasunger Krieges bei Gustav Freytag nachlesen. Übrigens wurden diese Dinge auch außerhalb Deutschlands mit der gleichen Wichtigkeit behandelt.

Aus Liselottens Briefen erfährt man, dass den Besuchen ihres Schwiegersohnes, des Herzogs von Lothringen, wochenlange Korrespondenzen über seine Ansprüche auf einen Sitz im Armstuhl und dergleichen vorauszugehen pflegten und die Titulatur des Königs von Dänemark in ihren Briefen, dem sie durchaus nicht das Prädikat Majestät geben will, verursacht ihr und ihren Ratgebern das größte Kopfzerbrechen. Ebenso verrufen wie der französische Hof, dessen Kleinlichkeit in Titeln Casanova verspottet, war jener der Großherzoge von Toscana. Nannte man in Versailles die römischen principi nur Marquis und einen titellosen Mann nicht monsieur, sondern nur sieur, so machten die letzten Fürsten aus dem Hause der Medici solche Ansprüche im Zeremoniell, dass es z. B. bei dem Besuch des Königs von Dänemark erst langer Verhandlungen des Kammerherrn von Ahlefeldt bedurfte, ehe ein Zusammentreffen der Herrscher ermöglicht werden konnte. Ganz besonders war allerdings der immerwährende Reichstag in Regensburg ein Schauplatz nie endender Streitigkeiten über Rang- und Zeremonialfragen, einem Thema, dessen eingehender Erörterung Johann Georg Keyßler, der als Hofmeister zweier Freiherren von Bernstorff 1730 dort weilte, in seiner Reisebeschreibung zwölf eng gedruckte Quartseiten widmet. Er verleiht dabei auch seiner und aller Beteiligten höchster Verwunderung darüber Ausdruck, dass der damalige französische Gesandte von Chavigny jedem Anspruch sofort nachgebe und setzt ganz naiv hinzu, dass er durch diese Nachgiebigkeit seine politischen Absichten allerdings wesentlich zu fördern pflege.
017. Franiçois le Moine, Picknick

017. Franiçois le Moine, Picknick

018. Antoine Watteau, Eine französische Komödie (Ausschnitt)

018. Antoine Watteau, Eine französische Komödie (Ausschnitt)

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