Erziehung

Es war nur natürlich, dass der Umschwung des geistigen Lebens, der sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzog, sich auch sogleich in einem Drängen nach erzieherischen Reformen äußerte. Erst, indem man sie der Jugend einpflanzt, können neue Errungenschaften des Geistes zu dauernder Wirkung gebracht werden. Gerade wie im 17. Jahrhundert hatte man in der ersten Hälfte des 18. unter der Erziehung des Weltmannes nichts anderes verstanden, als eine Dressur zum Kavalier.

Außer den ritterlichen Künsten lernte ein solcher vielleicht noch Französisch, in Österreich und Süddeutschland allenfalls Italienisch. Gelehrtes Wissen zu erwerben galt bei vornehmen Leuten direkt für unschicklich. Wie Liselotte es einmal ausdrückt „junge Leute von qualitet sollen weißen, dass sie hertz haben, sonst kommt es gar zu doctorisch herauß“. Und wenn sie ein ander Mal schreibt „lateinisch ist nur vor Pedanten“, so begreift man, dass Friedrich Wilhelm I. einen seiner gewöhnlichen Tobsuchtsanfälle bekam, als er seinen Sohn beim Einpauken von mensa mensae antraf.


Um seinen Sohn herzhaft zu machen, ließ ein anderer Hohenzoller, der Markgraf von Ansbach, in seinem Zimmer junge Bären aufziehen, eine Maßregel, von welcher er erst absah, als eins der herangewachsenen Tierchen sich anschickte, einen Diener zu verzehren. Weltbildung erwarb ein Kavalier nicht auf Universitäten, sondern auf Reisen, gewöhnlich auf der sogenannten großen Tour, die ihn in Begleitung seines Hofmeisters durch Deutschland und Italien, später hauptsächlich an den französischen Hof führte. War die Erziehung der männlichen Jugend der höheren Stände schon eine höchst unzulängliche — Georg III. von England konnte z. B. zehn Jahre alt, weder Deutsch noch Englisch — so war die der Mädchen vollends ganz vernachlässigt und diejenigen, welche später die Lücken derselben auszufüllen wussten, wie die Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar, Katharina II., können ihre schlechte und oberflächliche Erziehung meist auch durch ganz ungeeignete Individuen nicht genug beklagen.

Der Mangel an geeigneten Erziehern wurde auch sehr drückend empfunden. Der spätere Fürst Kaunitz z. B. beschwert sich 1745 gegen seinen Vater, dass er in Brüssel keinen passenden Hofmeister für seine Kinder finden könne. Geliert sah sich, um diesem Übelstande zu steuern, veranlasst, in Leipzig ein Kolleg über die Eigenschaften eines Hofmeisters zu lesen. Lief schon die Erziehung der oberen Stände rein auf eine Abrichtung zu gewissen äußeren Formen hinaus, so war die der Jugend der übrigen Stände vollends vernachlässigt, und beschränkte sich in der Hauptsache auf eine gründliche Verachtung der deutschen Sprache.

Den Oldenburger Schülern wurde noch 1704 verboten, außerhalb der Schule etwas anderes als Latein zu sprechen. 1709 schreibt August Hermann Francke, dass kein Student der Theologie in Halle imstande sei, einen richtigen deutschen Brief zu schreiben, ja der Hofmeister von Louise Adelgunde Kulmus, der späteren Frau Gottsched, verwies ihr das Schreiben deutscher Briefe als „gemein“. Und selbst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts noch schreiben Lauckhard und sein Vater an Professor Semler lieber Lateinisch als Deutsch. Wie traurig es um den Unterricht überhaupt aussah, lehrt Winkelmanns Jugendgeschichte.

Wenn Friedrich Nicolai auf seiner Reise feststellt, dass man in Bayern etwa nur in jedem dreißigsten Dorf einen Schulmeister finde, so passt das dazu, dass auch in Österreich-Schlesien nur etwa der fünfundzwanzigste Teil der Bevölkerung Schulunterricht empfing, und dass in Krain die Geistlichkeit in ihren Predigten das Lernen von Lesen und Schreiben als „Teufelswerk“ bezeichnete. Ganz in diesem Sinne erzählt Serafina Feliziani, die „Gräfin“ Cagliostro einmal ihren Anbetern, daß man in Rom Mädchen, die ehrbar und tugendhaft werden sollten, weder Lesen noch Schreiben lehre. Als Rousseau nun der Menschheit zurief, tut das Gegenteil des Herkömmlichen und ihr werdet das Rechte tun, da sprossten die pädagogischen Systeme aus dem Boden wie die Blumen im Mai. Man wollte abseits von der verkünstelten Gesellschaft mit ihrer Schablonenkultur Individuen erziehen, freie Menschen in freier Natur. Wie die vergangene Generation die Ritter-Akademien und die Kadetten-Anstalten zur Dressur ihrer Jugend errichtet hatte, so gründete man jetzt „Philanthropine“.

Basedow in Dessau, Salzmann in Schnepfental, Campe in Hamburg u. a. wirkten im Sinne individualistischer Erziehung, um wenigstens das künftige Geschlecht dem wahren Menschentum nahe zu bringen. Als aber Herr v. Rochow die Wohltaten der Schule auch der Landbevölkerung zuteil werden lassen wollte, da bedeutete ihn ein preußischer Minister, innezuhalten, denn der gemeine Mann habe nur Gehorsam zu lernen. Das geschah durch den gleichen Herrn von Zedlitz, der einst Gottfried August Bürger nicht als Lehrer anstellen wollte, damit die Jugend keinen Hang zu der alle Seelenkraft untergrabenden Poeterei bekomme.

An Schonungslosigkeit gegen die Kinder ließ es allerdings auch diese Generation, die selbst noch in sklavischem Gehorsam aufgewachsen war, nicht fehlen. Ismael Mengs hat Anton Rafael und Therese Concordia Mengs zu Künstlern erprügelt, eine pädagogische Kunst, die Rafael an seinen eigenen Kindern 30 Jahre später ebenfalls übte, Casanova erzählt, wie er sie fast zu Krüppeln geschlagen hätte. Aus Wahrheit und Dichtung erfahren wir, wie unbarmherzig der Rat Goethe gegen Wolfgang und Cornelia verfuhr, wie der berühmte Zimmermann Sohn und Tochter durch seine Härte zur Verzweiflung trieb. Mit dieser Strenge hängt wohl auch die uns so seltsam anmutende Frühreife der Menschen jener Zeit zusammen.

Die damalige Gesellschaft entließ ihre Angehörigen in einem Alter, in dem sie noch Kinder waren, als fertig ins Leben. Moritz von Sachsen wohnt als Dreizehnjähriger der Schlacht von Malplaquet bei, Prinz Max von Württemberg ficht mit 14 Jahren schon in der Schlacht von Pultusk mit: Leopold von Gerlach ist 1780 noch minderjährig aber schon kgl. Regierungsrat. Sophie von Pannwitz ist vierzehnjährig schon Hof- und Staatsdame der Königin von Preußen, ihr späterer Mann, Johann Ernst von Voß mit 18 Jahren Geheimrat mit Sitz und Stimme am Oberappellationsgericht in Berlin; ihre Tochter heiratet mit 14 Jahren, Wielands Tochter mit 15, Goethes Mutter mit 17 usw. Diese Frühreife hängt wohl damit zusammen, dass man den Unterricht fast noch in den Windeln beginnen ließ. Sieht man selbst von Wunderkindern wie Mozart und dem kleinen Heinecken, der ein Jahr alt den Pentateuch auswendig konnte, völlig ab, so bleibt es doch noch wunderlich genug, dass Emilie Basedow noch nicht vier Jahre alt Französisch spricht, Wieland seinen Unterricht schon mit 3 ½ Jahren beginnt, Seume sich auf die Zeit, in der er nicht hätte lesen und schreiben können, überhaupt nicht mehr besinnen kann. Welche Vorwürfe man auch immer der heutigen Schule machen mag, man muss als Anerkennung wenigstens gestehen, dass sie ihren Vernichtungskampf gegen den Geist der Kinder erst in einem späteren Alter aufnimmt.

033. Gravelot, Cavalier

033. Gravelot, Cavalier

034. Gravelot, Cavalier

034. Gravelot, Cavalier

035. J. B. Simion Chardin, Die Lektüre

035. J. B. Simion Chardin, Die Lektüre

036. Jean François de Troy, Liebeswerben. 1731

036. Jean François de Troy, Liebeswerben. 1731

037. Nicolas Lancret, Schäferszene

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038. Nicolas Lancret, Nicaise

038. Nicolas Lancret, Nicaise

039. Daullé, Ludwig XV. 1738

039. Daullé, Ludwig XV. 1738

054. William Pitt, englischer Staatsmann

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040. Watteau, Die Göttin Ki Mao Sao

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041. Nicolas Lancret, Im Winter

041. Nicolas Lancret, Im Winter

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