V. Einzelschicksale. Auf der Flucht. — In Gnadenfeld. — In Orloff. — In Tiege. — In Münsterberg. — Das größte Opfer Sagradowkas.

Um die Heimsuchung der Mennoniten auf Sagradowka zu verbildlichen, möge jetzt eine Schilderung von Einzelschicksalen folgen. Es sind dies Beispiele, die ich hundertfach vermehren könnte, da sich fast auf jedem der 600 Höfe eine Tragödie abgespielt hat.

Nicht nur in den sechs betroffenen Dörfern allein, auch in den übrigen erlebten die Mennoniten eine qualvolle Zeit. Musste man nicht auch dort jeden Augenblick die Räuber erwarten, von denen die Flüchtlinge mit verstörten Gesichtern erzählten? Ist es nicht begreiflich, dass die erregte Phantasie den Tod in allen Farben der Vorstellung tanzen ließ, dass die Gemüter bis zur Betörtheit gespannt waren? Der Wirrwarr von Ereignissen und Gerüchten machte die Menschen kopflos, und eine Panik unheilvollster Art entstand. Ziellos sah man sie in unregelmäßigen Haufen in die Steppen fliehen. Kinder klammerten sich in Todesangst an die Eltern, die unter der Last des Jammers, vor Ermattung und Erregung fast zusammenbrachen.


Ein Beispiel. Der Lehrer J. Bärg besaß kein Gespann und musste zu Fuß die Flucht ergreifen. Neben ihm ging seine kranke Frau, umgeben von ihren zehn Kindern, darunter ein epileptischer Krüppel. Ein Wagen nach dem anderen fuhr an ihnen vorbei, die denselben Weg nach Michajiowka einschlugen. Alles fliehende Mennoniten. Mit flehenden Blicken sah die wandernde Familie den Wagenbesitzern nach. Aber sie wurde nicht beachtet. Endlich kam einer mit dem Herz des Samariters und nahm den Krüppel des armen Lehrers zu sich auf den Wagen. Für mehr Personen fand sich kein Raum, da bereits 11 auf dem Wagen saßen. Der Wann, von dem ich dieses Beispiel habe, fügte hinzu: „Der barmherzige Samariter war hier auch keiner von denen, die lange Gebete öffentlich hersagen. Leviten und Pharisäer waren achtlos vorübergefahren, auch wenn sie Platz genug auf dem Wagen hatten. Sie dachten nur an ihre eigene Gefahr.“

Doch nun zurück zu den Überfallenen Dörfern! Gnadenfeld. Um arm und reich kümmerten sich die Machnowze nicht. Gnadenfeld ist eines der ärmsten Dörfer des Gebiets und hat doch nach Münsterberg am meisten gelitten. Als die ersten Reiter hier er schienen, ging gerade ein Mann, namens Franz Haak, über die Straße. Die Reiter winkten ihm aus der Ferne. Er ahnte jedoch nichts Gutes und floh vor ihnen. Da hörte er Schüsse, aber die Kugeln pfiffen an ihm vorbei, ohne ihn zu treffen. Er lief in einen Garten, um sich zu verstecken. Aber es war im November, und die Bäume hatten bereits ihr Laub verloren. Endlich fand er hinter den Gärten einen Graben, wo er sich verkroch. Bald hörte er Stimmen und Hufschlag. Vorsichtig lugte er hervor und gewahrte zwei Reiter, die den Graben entlangritten. Unfehlbar mussten sie ihn entdecken. Darum sprang er heraus, um sich im Schutze des Nebels in sein Häuschen zu retten; denn er hatte eine Frau und zwei kleine Kinder, die auf ihn warteten. Aber ehe er die Haustür erreichen konnte, wurde er von Banditen, die inzwischen alle Höfe besetzt hatten, gestellt und ins Haus gewiesen. Dann folgten sie ihm. Seine Wohnung war nur eine kleine Kate, aber nichtsdestoweniger verlangten die Räuber Geld und Kleider. Es nützten keine Einwände: sie trugen unter Fluchen und Drohen das Letzte weg. Das Leben blieb ihnen noch. Aber womit sollte man sich von den nächsten Räubern loskaufen? Die Straßen füllten sich immer mehr. Das Schreien, Fluchen und Schießen klang so bedrohlich, dass er an erneute Flucht denken musste, wenn er sich seiner Familie erhalten wollte. Es war bekannt, dass man die Männer schonungslos ermordete. Kaum war er draußen, als er sah, wie sein Nachbar Kliewer blutüberströmt unter den Säbelhieben der Furchtbaren im Nachbargarten zusammenbrach. Frau Kliewer schrie herzzerreißend, im Nu eines Augenblicks verschwand Isaak, um sich auf dem Dachboden zu verstecken. Er vergrub sich in der Spreu. Schon in der nächsten Minute sprengten Reiter auf seinen Hof. Er vernahm ihr Schreien. Man rief nach ihm. Kliewers Schicksal tauchte vor seinen Augen auf. Noch tiefer verkroch er sich. Der Atem wollte ihm schier ausgehen unter der Spreu. Schwere Tritte kamen die Bodentreppe hinan, ein Gewehrkolben stieß drohend auf. Nun fühlte er den Späherblick den Boden absuchen. Regungslos verharrte er in todesbanger Erwartung. Die Minute wuchs zur Ewigkeit. Er fürchtete ersticken zu müssen. Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Er musste den Kopf freimachen. Den Späher sah er nicht; aber ein verdächtiger Brandgeruch durchzog den Bodenraum. Da stieg er heraus aus der Spreugruft; er wollte nicht verbrennen. Vorsichtig näherte er sich der Treppe. Haus und Hof schienen verlassen.

Isaak stieg hinab. Sein Haus brannte nicht, aber andere in der Nachbarschaft. Im Vorgarten fand er seine Frau mit den Kindern. Der Lärm der Straße verhallte. Die Räuber zogen gerade zur Dorfstraße hinaus.

Wie Träumende standen sie vor dem Wunder ihrer Rettung.

Auf anderen Höfen lagen die Männer erschlagen, und trostleere Augen sahen in die Flammen, die ihre letzten Habseligkeiten verschlangen. —

In Orloff. Hier steht mein Geburtshaus. Als am 29. November Reiter durch die Straße sprengten, machte meine Stiefmutter den Vater auf die verdächtige Erscheinung aufmerksam. Bald kamen die ersten auf den Hof. Polternd stürzten sie ins Haus und verlangten Geld. Ein Zögern machte sie wild. Einer riss das Gewehr von der Schulter: „Glaubt Ihr, mir ist die Kugel zu schade?“ rief er. Vater versuchte sie mit der Aussicht auf eine Mahlzeit zu beruhigen. Sie möchten sich gedulden, seine Frau solle sofort den Tisch decken. Damit entfernte er sich und floh in den Garten. Er versteckte die Mutter in einem entlegenen Bretterhäuschen. Dann verschwand er hinter der Maulbeerhecke. Im Hause war nur noch mein Bruder Abram geblieben. Von ihm wurde die Auslieferung der Gewehre verlangt, die man seit jener törichten Bewaffnung durch die deutschen Okkupationsbehörden immer bei den Mennoniten vermutete. Aber in einem unbewachten Augenblick, als die Banditen ihren Rundgang im Hause begannen, entfloh auch er und erreichte die Waldplantage hinter dem Garten. Auch hier von Reiterposten geschreckt, suchte er auf dem Felde Rettung. Der Nebel war ihm günstig.

Vom Feinde ungesehen, kamen hier von allen Seiten junge Männer und Knaben zusammen. Unter ihnen waren zwei meiner verheirateten und zwei jüngere Brüder.

Die Flüchtlinge mochten 2 km fortgekommen sein, als plötzlich Reiter hinter ihnen er schienen, die sie verfolgten und bald einholten. Wie eine Schafherde wurden sie zurückgetrieben.

Als sie sich der Waldung näherten, wagte mein Bruder Johann einen Sprung ins Dickicht, um zu entkommen. Aber sofort nahm ein Reiter die Verfolgung auf. Unentwegt setzte er ihm nach, bis er ihn nach einer Jagd von beinahe einer halben Stunde erreichte und fortan nicht wieder freigab. Er quälte ihn wie die Katze die Maus. Er zwang ihn, Strohhaufen anzuzünden, stand abseits und ließ Johann die Zuversicht gewinnen, dass er entkommen könnte. Sobald er aber die Flucht ergriff, kam ihm der Vampyr zu Pferd nach. Man hat Johann über viele Höfe und die Straße entlanglaufen sehen und hinter ihm her den Todesreiter. Diese Flucht bedeutet eine Dauerleistung, wie sie nur ein selten kräftiger Mensch aufbringen konnte. Aber die schwebende Todesgefahr hat ihn schließlich verwirrt gemacht. Augenzeugen behaupten, dass allem Anscheine nach die klare Überlegung ihn verlassen hatte . . .

Man fand ihn später auf einem fremden Hofe mit fünf Stichwunden in der Brust. Es muss ein ausgesucht sadistischer Verbrecher gewesen sein, der sein Opfer so lange quälen konnte, um es schließlich noch mit kalter Waffe langsam zu Tode zu martern. —

Bruder Abram blieb beim eingetriebenen Haufen. Als er zusammen mit den übrigen in die Dorfstraße hineinkam, erkannten ihn zwei Banditen, die ihn zu Hause gesehen hatten. Sie nahmen ihn sofort aufs Korn. Aber der Todgeweihte setzte mit einem mutigen Sprung über den hohen Straßenzaun und lief in den Garten hinein. Schüsse fielen, aber die Kugeln trafen nicht. Durch Hecken und Gärten ging die Jagd auf ihn weiter. Endlich sah er keine Rettung mehr: die Atemnot wurde so groß und die Kräfte wurden so gering, dass er die weitere Flucht aufgab. Blitzschnell warf er sich in ein Unkrautgebüsch, das in einem Gemüsegarten stehen geblieben war. Sein Verfolger hatte ihn aus den Augen verloren, ritt aber so nahe an ihm vorbei, dass sein Pferd den Liegenden fast mit den Hufen streifte. Auf diese Weise entkam er dem Tode.

Mein Vater hatte auch im Garten Zuflucht gesucht, wie manche andere. Mein 13 jähriger Bruder Bernhard hatte ihn in einer Maulbeerhecke gefunden und war bei ihm geblieben. Plötzlich tauchten zwei Reiter auf, die sie in der laubfreien Hecke bemerkten und barsch aufforderten, hervorzukommen. Bernhard entfloh jenseits der Hecke, während Vater sich erhob und stehen blieb. Ein Knall — und lautlos sank er tot zu Boden. Unfern von ihm kauerten Frauen in einer Laube, die sie natürlicherweise in dieser Jahreszeit nicht schützte. Mit Entsetzen waren sie Augenzeugen dieses Vorganges geworden. Frau Janzen stand außerhalb der Laube. Man zielte auch auf sie. Aber ehe die Schüsse fielen, warf sie sich auf den Boden, und so pfiffen die Kugeln über sie hinweg. Dieses trug sich in P. Wiebes Garten zu. Die Reiter waren offenbar dieselben Räuber gewesen, die im Hause das alte Ehepaar auf seinem Krankenlager mit Säbeln umgebracht hatten. In zwei Stunden waren mir der Vater und zwei Brüder genommen.

Eine andre Tragödie aus Orloff. In einem Hause lag eine Frau todkrank. Ihr Mann, namens Peter Isaak, saß an dem Sterbebett. Eine Schwester der Kranken war mit ihrem Manne zum letzten Wiedersehen gekommen. Da stürzten auch hier die Machnowze herein. In rasender Wut begannen sie das Vernichtungswerk. Zuerst streckten sie den Gast, Isbrand Friesen, mit einer Kugel nieder. Danach nahmen sie die Verfolgung des Hausherrn auf. Er floh hinaus; aber schon in des Nachbars Garten ereilte ihn die tötende Kugel. Nun warfen die Unholde Stühle und Betten zusammen, um das schöne, neue Haus anzuzünden. In letzter Minute trieben sie die Totkranke, nur mit einem Hemd bekleidet, zum Hause hinaus. Auf dem feuchten, kalten Gartenboden brach die Sterbende nieder. Die Kinder zogen ihre Kleider aus, um die Mutter darauf zu betten. Bald hauchte sie ihren letzten Atem in den Novembernebel aus.

Welch ein Bild bot sich den armen Kindern! In ihrer Mitte die tote Mutter, weiter ab die Leiche des Vaters, vor sich die lodernden Flammen, die erbarmungslos ihre Heimstätte verzehrten ... Man hat sie später wie andere Waisen bei fremden Leuten zerstreut im Orte untergebracht. Aber das grauenvolle Ereignis wurde zu einem unauslöschlichen Erlebnis für die Kinder. Am meisten litt die älteste Tochter, ein begabtes und tiefempfindendes Mädchen von etwa 18 Jahren. Fünf Monate lang rang sie: ihr Geist vermochte sich nicht zurechtzufinden und ging in die Irre. Das Geschick dieses Mädchens ist erschütternd! Ihre Schwester kämpft denselben schweren Kampf. Vielleicht reichen die Geisteskräfte aus, ihr Gemüt in die nötige Ruhe zu zwingen.

In Tiege. Im Hause des Arztes suchten die Banditen lange nach Kostbarkeiten, die sie dort vermuteten. Der Arzt besaß an Reichtum nichts, als zwei sehr schöne Töchter. Einer, der sich Kommandant nennen ließ, stellte den Arzt vor die Entscheidung, entweder sein Leben zu lassen oder ihm seine Tochter zur sexuellen Befriedigung preiszugeben. Als er zauderte, opferte sich die Tochter aus freien Stücken, um den Vater zu retten.

Nur wer die widerwärtigen Gesellen gesehen hat, kann die Ungeheuerlichkeit dieses Vorfalls ermessen. Gewissenlos überfielen auch Geschlechtskranke die Frauen, um ihren Opfern ein schreckliches Erbe zu hinterlassen.

Wie beklagenswert ist erst das Geschick einer Frau, die schwanger wurde durch die Räuber! Wer kann die Gefühle einer Frau begreifen, die ein Kind zur Welt bringen soll, das einen Menschen mit Räuberinstinkten zum Vater hat?

Das Schicksal Wilhelm Martens in Münsterberg. Als die Machnowze in Münsterberg erschienen, waren die Leute zunächst nicht mehr erschreckt als bei früheren Überfällen. Man hatte sich in der Zeit der Bürgerkriege an raubende Banden fast schon gewöhnt. Sie pflegten roh zu sein, aber man war stets mit dem Leben davongekommen.

Martens war als häufiger Delegierter in der Öffentlichkeit bekannt. Seine Frau bangte um seine Sicherheit, weil man ihm schon oft von gegnerischer Seite gedroht hatte. Drum bewog sie ihren Mann, sich diesmal im Garten unterhalb des Hofes versteckt zu halten. Es war Abend, und er blieb unerkannt. Aber nicht lange litt es ihn fern. Das Brennen der Häuser, das Schreien und Toben ließ ihm keine Ruhe. Langsam schlich er dem Hause näher, und als er vermuten konnte, dass die Fremden es verlassen hatten, eilte er auf die Tür zu. Aber ehe er si e erreichte, stolperte er über eine Leiche. Es war seine Frau. Sein Herz schrie auf. Verzweifelt rief er zum Himmel. Seine Frau blieb tot. Plötzlich gedachte er seiner Kinder. Aber o Grauen! mit verstümmelten Gliedern lagen sie alle fünf in den Zimmern umher, das älteste von elf Jahren neben dem jüngsten. Schützend mochten sie die Hände gegen die Säbelhiebe gestreckt haben im Versuch sie abzuwenden.

Von wildem Schmerz gepeitscht lief Martens davon. Seine Sinne fassten nichts mehr. Er lief am Nachbarhause vorbei, wo abgehauene Kinderköpfe auf dem Fensterbrett standen und sah sie kaum. Sein Herz schrie weiter in maßlosem Weh . . .

Eine junge Lehrerswitwe erzählte mir viele Monate nach dem Vorfall, welch qualvollen Tod ihr Mann in Münsterberg erlitten hatte. Als er von Säbelhieben verstümmelt niederbrach, setzten die Unmenschen sich an den Tisch und tranken Branntwein, während ihr Opfer zuckend und röchelnd am Boden lag und mit dem Tode rang.

In derselben Stunde kamen auch die Eltern dieser Frau um. Man muss solch einer Frau ins Auge gesehen haben, um zu ahnen, welche seelischen Qualen ein feinempfindender Mensch erlitten hat in der Überwindung solcher Leiden.

Von einem Schicksal muss ich hier noch sprechen, weil es für Sagradowka das bedeutungsvollste ist.

Heinrich Neufeld gehört auch zu den Opfern des 29. November. Das Leben dieses unermüdlichen Idealisten und stets schwer ringenden Kämpfers verdiente eine gesonderte Darstellung. Wir können diesem Manne, der sein ganzes Leben den Mennoniten zeitlos gewidmet hat unsre Dankbarkeit am besten dadurch bezeugen, dass wir uns sein mannhaftes Wirken zur Nacheiferung vergegenwärtigen.

Heinrich Neufeld wurde 1917 in seine Geburtsheimat Orloff berufen. Er begründete auf allgemeinen Wunsch für die männliche und weibliche Jugend eine Fortbildungsschule. Mit großem Erfolg wurde an dieser Reformanstalt Sagradowkas gearbeitet. Ein neuer Geist zog in die Jugend ein, und fast könnte man von einer Jugendbewegung reden. Zielbewusst sahen die jungen Menschen ins Leben, das hehren Idealen gewidmet sein sollte. Heinrich Neufeld war die Seele dieser Bewegung. Darum ging später mit seinem Tode diese Schule ein. Es hätte einer großen, selbstlosen Persönlichkeit bedurft, um sie weiterzuführen.

Am Tage des Unheils ging der Unterricht wie immer seinen Gang. Plötzlich trollte ein Haufe Bewaffneter mit bloßen Säbeln in die Unterrichtsräume. Wie Betrunkene schlugen sie um sich. Die Lehrer hießen die Schüler nach Hause gehen. Auch Heinrich Neufeld begab sich mit Büchern unter dem Arm auf den Heimweg. Seine Wohnung lag weit entfernt von der Schule, fast eine Werst weit. Er suchte nirgends Deckung, sondern nahm wie gewöhnlich den Weg die Straße entlang. Ein Weichen vor der Gefahr entsprach seinem Charakter so wenig, dass er vermutlich gar nicht daran gedacht hat. Plötzlich vertrat ein Räuber ihm den Weg. Es entspann sich ein Wortwechsel, den Abram Wiebe übermittelt hat: „Wohin?“
„Nach Hause zu meiner Familie.“
„Wer bist Du?“
„Ich bin Lehrer im Orte.“
„Dann gehe nicht weiter, sonst erschlägt man Dich.“
„Warum denn?“
„Wir üben Rache. Aber wenn Du Lehrer bist, gehe dort hinüber ins Schulhaus. Dann kannst Du am Leben bleiben.

Es war in der Nähe der Volksschule. Neufeld folgte seinem Rat und blieb bei den beiden Dorfschullehrern Töws und A. Wiebe.

Aber auch an der Volksschule gingen die Plünderer nicht vorbei! Eine Gruppe nach der anderen kam herein. Die Lehrer zu beschimpfen und mit dem Tode zu bedrohen, war offenbar eine Genugtuung für sie.

Das Schulhaus lag hart an der Straße. Daher sahen die drei vom Fenster aus, was um sie herum im Orte geschah. Gegenüber lag ein Hof. Er gehörte Heinrich Siemens. Durch die offenen Türen und Fenster drang Lärm herüber. Schüsse fielen, und Siemens rief laut um Hilfe: vermutlich war er getroffen worden. Bald stiegen prasselnd die Flammen hoch. Nichts blieb erhalten auf dem Hofe; auch Siemens verbrannte in seinem Hause.

H. Neufeld hätte sich verstecken können; aber er saß da, in ahnungsschwere Gedanken versunken, den Kopf in die Hand gestützt und verriet dann und wann, dass er an Frau und Kinder dachte . . .

Nach zwei langen, martervollen Stunden ertönte ein Signal und nun sammelten sich die Räuber auf der Straße zum Abzug. Droschken mit Vierer- oder Sechsergespannen, Reiter auf frisch erbeuteten Pferden drängten sich zusammen. Es mögen drei- oder vierhundert Mann gewesen sein.

Schon glaubten die Lehrer sich gerettet. Da stürzten in letzter Minute noch einige blutlechzende Räuber mit schussbereiten Pistolen ins Schulhaus. Heinrich Neufeld hielten sie für einen Studenten. Wie sie auf die Idee gekommen waren, ist nicht gut erklärlich. Der 35jährige Mann hatte in der Tat ehemals in der Schweiz studiert. Aber woran sollten sie das erkennen? Ein Student war jedenfalls in ihren Augen ein Todeskandidat. Aber auch die anderen beiden sollten sterben.

Ein Schuss — und Töws sank tödlich getroffen um. Da trat Neufeld vor und rief den Mördern ins Gesicht: „Wofür?“ Statt Antwort fiel ein zweiter Schuss und Neufeld ward für immer stumm.

Den Tod vor Augen, sank Wiebe auf die Knie und flehte die Mörder an, sein Leben zu schonen: er habe Frau und Kinder. Dann verlor er die Besinnung und erwachte erst in einem anderen Zimmer. Sein Henker stand neben ihm und forderte ein Lösegeld. Wiebe bot ihm alles, was er hatte. So blieb er am Leben.

Töws und Neufeld waren tot. Neufelds Frage: „Wofür?“ war bezeichnend für seine ganze Art: Er besaß ein sittliches Rechtsempfinden, wie man es selten bei Menschen findet. Sein Wirken in der Schule und in der Gemeinde, deren Prediger er war, kommt einem restlosen Einstehen für andere, für die Gemeinsache, gleich.

Neufeld hinterließ eine Witwe und sieben Kinder, von denen das älteste 15 und das Jüngste ein halbes Jahr alt war. Neufeld hatte in den letzten Jahren seine Familie knapp ernähren können. Nun sollte die Not der Familie noch größer werden. Die Gemeinde zahlte schon einen Monat nach Neufelds Tode, der Witwe kein Gehalt mehr. Die Mennoniten Sagradowkas haben wenig soziales Empfinden. Es ist nicht genügend vertieft und gepflegt worden, obgleich Heinrich Neufeld in seinen Predigten gerade solche tätige Nächstenliebe zu wecken suchte. Seine Reden schlugen jedes Mal ein. Sie beschäftigten oft noch späterhin die Gemüter. Aber er war lange ein Prediger in der Wüste mit seiner Auffassung, die unsre Mennoniten vom Lippendienst zum werktätigen Christentum, zu einer höheren Ethik führen wollte. Neufeld war kein Mann der Halbheiten. Er vertrat ein entschiedenes Christentum, ein Tatchristentum. Er stand auf so hoher Warte, dass selbst viele Prediger Sagradowkas ihm in seinen tiefsten Reden nicht folgen konnten, ihn missverstanden oder gar verurteilten. Das beirrte ihn aber nicht, wiewohl er oft schwer darunter litt.

Nicht für seine Person, wohl aber für eine gemeinnützige Sache konnte er mit der größten Entschiedenheit eintreten und mit dem Enthusiasmus eines Idealisten verfechten.

Neufeld wollte keine neue Sekte hervorrufen, wozu manche seiner Freunde Neigung hatten. Er bedauerte, dass es deren schon zu viele gab. Gerade dahin ging sein Bestreben, nicht trennend zu wirken, sondern zusammenzuzuführen und zu versöhne.

Auch die Versöhnung der sozialen Klassen lag ihm am Herzen. Oft trat in Sagradowka unter Mennoniten als eine Folge der Revolution eine hässliche, unbrüderliche Scheidung zwischen Begüterten und Armen in die Erscheinung. Die Besitzenden räumten den Besitzlosen nur ungern das Stimmrecht ein bei Gemeindeberatungen, wie es von den Bolschewiki anbefohlen war. Dann tat ein besonnenes Einwirken von der Predigerkanzel oft not.

Heinrich Neufeld hatte durch seine unermüdliche Tätigkeit in der Gemeinde und durch seine Arbeit als mustergültiger Pädagoge alle ernst denkenden und brüderlich-christlich fühlenden Wahrheitskämpfer auf seine Seite gezogen. Um ihn als Mittelpunkt begann sich ein lebendiges Streben zu entwickeln, das immer weiter in die Reihen junger Männer drang und verheißungsvoll war. Da, als man Neufeld am wenigsten entbehren zu können glaubte, kam die Frevlerhand und nahm ihn uns weg. Seine Freunde standen verladen, und selbst seine früheren Gegner haben mir ausdrücklich bekundet, dass sie zu spät seine Bedeutung für Sagradowka erkannt hätten.

Sein Leib ist tot, aber sein Geist lebt kräftig fort. Ich hörte Männer wörtlich sagen: ,,Wir wollen sein Werk fortsetzen.“ Und ich glaube, dass es die besten Männer Sagradowkas waren.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mennonitentum in der Ukraine