I. Reise nach Sagradowka. Unterwegs. — Erster Eindruck von Münsterberg nach dem großen Unglück.

An einem Vorfrühlingstage des Jahres 1920 befand ich mich im Kastenwagen auf der Landstraße, um am Abend des zweiten Reisetages nach meiner Heimat Sagradowka zu kommen. Die Reise von der Altkolonie am Dnjepr nach Sagradowka am Ingulez war zu dieser Zeit ein größeres Wagnis als ehemals eine Amerikareise. Die Unsicherheit der Straßen machte das Reisen in der Tat unheimlich. Täglich kamen Morde vor in den Gegenden, die zu den Operationsgebieten des Bürgerkrieges gehörten. Es gab hier noch keine befestigte Gewalt. Aber mit unwiderstehlicher Notwendigkeit zog es mich nach der Heimat, da ich von furchtbaren Ereignissen gehört hatte, die sich dort bereits vor vier Monaten zugetragen haben sollten.

Mein Fuhrmann hatte Pferde, die ihm niemand neidete, und er selber glich eher einem Zigeuner, als einem Mennoniten aus der Alt-Kolonie. Er hatte drei oder vier Röcke übereinander angezogen, um trotz der Löcher die Blößen des Leibes überall zu verdecken. Unter der abgetragenen Schildmütze sah das sonnverbrannte, magere Gesicht hervor, umrahmt von einem ungepflegten, grauen Bart. Die kleinen, verhärmten Augen verrieten vollends, dass er zu den Ärmsten des Landes gehörte, ich selber sah auch einem Burschuj (Bourgeois), wie jeder Nichtarbeiter verächtlich genannt wird, wenig ähnlich in meinen lackleinenen Kleidern.


Nur diesem Umstande war es zu verdanken, dass wir zwei Tage ungehindert auf der Landstraße fahren durften.

Das Ziel unserer Reise war nicht mehr fern. Aber die Sonne neigte sich schon stark dem Horizonte zu, und die kleinen Pferde trabten immer unwilliger. Die Sonne ging unter, als wir das Russendorf Schesternja am Ingulez erreichten. Jenseits des Flusses lag schon das Gebiet der Mennoniten, das unser Ziel war. Aber die Brücke war vom Hochwasser zerstört, und es galt eine Furt zu finden. Der Fluss hatte viel Wasser zu dieser Jahreszeit. Wir waren daher nicht unbekümmert, bis man uns eine geeignete Stelle zeigte. Das Wasser drang in den Wagenkasten, aber die Durchfahrt glückte. Schwer kam dann der Wagen in dem losen Sande voran. Ich stieg ab und ging nebenher.

Im fahlen Lichte des aufgehenden Mondes lag Münsterberg vor mir. Voll bangender Erwartung spähte ich hinüber nach jenem Dorf, über dessen Schicksal schaurige Gerüchte nach der Altkolonie gedrungen waren. Langsam fuhr jetzt der Wagen in die sandige Dorfstraße hinein. Ich folgte ihm in einiger Entfernung. Kein Laut ringsum. Kein Hund schlug an. Kein Mensch schritt über den Hof, der vor mir lag. Eine grausige Stille im Dunkel der Mondnacht!

Das Haus trug kein Dach mehr. Durch schaurig gähnende Fensteröffnungen sah ich schwarzberußte Innenwände. Unbeweglich umstanden Bäume diese Mauern, die ehemals ein glückliches Heim geborgen hatten. Erstarrt waren die Bäume seit dem Brande. Sie belaubten sich nicht mehr. Wie stumme Ankläger streckten sie ihre dürren Äste gen Himmel. Der Mond stand blass darüber, als ob auch ihn der Anblick in Schrecken verletzte.

Ich sah und sann: ich kannte ihn, der diesen Hof bewohnte. Was war mit ihm geschehen? . . . Ein Käuzchen schrie durch die Nacht. Ich schrak auf. Der Wagen war weit vor mir. Ich beschleunigte den Schritt. Aber seltsam, vor jedem neuen Torweg hielt es mich gewaltsam zurück. Jeder Hof erzählte dieselbe traurige Geschichte. — In mehr als einem war ich im verflossenen Sommer frohgemuter Gast gewesen.

Da lag die Schule. Auch sie eine Ruine. Nur von meinem Schatten begleitet, schritt ich einsam bis ans Ende der Dorfstraße. Dann wandte ich nochmals den Blick zurück. Eine schwere Traurigkeit legte sich auf die Seele, dieweil ich erkannte, dass Münsterberg ausgetilgt war.

In Altonau, dem nächsten Dorf, übernachteten wir. Ich kehrte beim Dorfschulmeister ein und ließ mir bruchstückweise berichten aus jenen Tagen, als „Väterchen Machno“ mit Tod und Verderben hier seinen Durchzug hielt.

Wie gelähmt hörte ich zu und vermochte die wirbelnden Gedanken nicht zu meistern. Den Gefühlen ließ ich ungehemmt ihr Wogen. Aber dann brach der Wille sich Bahn, und ich fasste mich. Die Nerven erzitterten, und ich empfand ein dumpfes Tönen in mir, das mein Weh auslösen wollte. Tief ins Innere bohrte sich der Schmerz über die vielen Opfer der Heimat. Auch mein Freund war darunter. Unfassbar, ja unmöglich erschien mir der Gedanke, ihm unerreichbar fern zu sein. Niemand kann ihn mir ersetzen. Kühn planten wir die Zukunft unseres Mennonitenvolkes. Wir liebten unsere Heimat Sagradowka und fühlten uns mit ihr tief verbunden, auch wenn wir zürnend schalten, so oft der Torheit allzuwillig Ohr und Herz geöffnet wurden.

Wie ist das Schicksal über Sagradowka hereingebrochen? Versuchen wir einmal, all dem vorsichtig nachzuspüren, was dem großen Ereignis vorangegangen ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mennonitentum in der Ukraine